Die Voliere (German Edition)
wirkte er im Gegensatz zu den übrigen Anwesenden im Saal keineswegs beunruhigt, sondern schien das Chaos vielmehr zu genießen. Seine Lippen umspielte ein sphinxartiges Lächeln. Dieses verschwand schlagartig, als Nora das Mikrofon ergriff und prüfend gegen das Gitter klopfte. Dumpfes Pochen ertönte im Saal. Die Anwesenden drehten sich neugierig zu ihr um.
»Guten Abend, mein Name ist Nora Winter. Ich bin Polizeipsychologin aus Frankfurt und hatte beruflich mit Herrn Lefeber, Herrn Rosen und Herrn Tibursky zu tun.«
Murmeln, Kopfschütteln, skeptische Blicke.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, sich noch einmal hinzusetzen? Ich möchte etwas Wichtiges mit Ihnen besprechen.«
Nach einer Denkpause nahmen die Ersten Platz und der Rest folgte kurz darauf.
»Ich kann absolut nachvollziehen, dass es Sie beunruhigt, solche Menschen in Ihrer Nachbarschaft vorzufinden. Sie sorgen sich um Ihre Kinder, Ihre Frauen und Ihren Frieden.«
Zustimmung, aber auch Wachsamkeit. Was will sie uns sagen?, las Nora auf den Gesichtern in der ersten Reihe.
»Ich will nichts beschönigen: Lefeber, Rosen und Tibursky haben in ihrer Vergangenheit sehr schlimme Dinge getan, Menschen großes Leid zugefügt. Das kann man nicht wiedergutmachen. Ich habe mit allen dreien ausführliche Gespräche geführt und kann Ihnen versichern, dass die Männer sich dessen bewusst sind. Dass sie Reue empfinden und alles in ihrer Macht Stehende tun, damit so etwas nie wieder vorkommt.«
»Die Typen sind total krank! Die kann man nicht heilen.« Der Rufer zog es vor, anonym zu bleiben.
»Ich geben Ihnen recht: Woran die Männer leiden, kann man nach dem heutigen Erkenntnisstand nicht mit einer Therapie heilen. Aber sie haben gelernt, ihr Verhalten zu kontrollieren. Sie werden Situationen, die eine Rückfallgefahr bergen könnten, bewusst aus dem Weg gehen. Abgesehen davon ist Herr Rosen nicht mehr in der körperlichen Verfassung, jemandem gefährlich zu werden.«
Beruht das jetzt noch auf wissenschaftlichen Fakten oder redest du dir die Situation schön, fragte Nora sich selbst. Sie schob den Gedanken beiseite, als jemand rief: »Muss ich jetzt etwa auch noch Mitleid mit denen haben?«
Lacher, geringschätziges Prusten.
»Nein. Mitleid erwarte ich nicht von Ihnen. Aber Toleranz den Männern gegenüber. Dass Sie ihnen eine Chance geben. Jeder hat eine zweite Chance verdient.«
»Diese Dreckschweine nicht!«, brüllte jemand und klang dabei schon ziemlich unartikuliert.
Ein Sturm der Entrüstung brach los.
Nora klopfte auf ihr Mikro, von Mal zu Mal lauter, nur mit Mühe brachte sie den Saal zur Ruhe. Jetzt würde sie sich sehr weit vorwagen müssen, und das vor laufenden Fernsehkameras.
»Ich möchte Ihnen Folgendes anbieten: Solange Sie das wünschen, halten ein Kollege vom Zentralen psychologischen Dienst der hessischen Polizei oder ich regelmäßig Kontakt zu Ihnen. Als eine Art Verbindungsstelle zwischen diesen Männern« – sie deutete auf die Gesichter an der Leinwand – »und Ihnen. Wir sprechen über alle Bedenken, die Sie haben, alle Ängste. Wir versuchen, einen Weg zu skizzieren, der für alle annehmbar ist. Lösungen zu finden. Ich denke, mit ein bisschen Offenheit von beiden Seiten ist das möglich.«
Die Menschen im Saal sahen sich unschlüssig an. Noras Rede war offenbar nicht nur auf taube Ohren gestoßen. Es wurde diskutiert und für einen Moment sah es tatsächlich so aus, als wäre es ihr Vorschlag zumindest wert, in Erwägung gezogen zu werden.
Doch dann riss ihr der beleibte rotwangige Kerl, der hier das Sagen zu haben schien, das Mikro aus der Hand und machte alles zunichte.
»Schluss jetzt damit. Wir Scheelbacher wollen diese Verbrecher nicht in unserem Forst und nicht in unserem Ort. Verschwinden Sie und nehmen Sie die Brut mit! Am besten heute Abend noch. Ansonsten garantiere ich für nichts.«
Der Wortführer sah fordernd in die Menge. Jemand fing an zu klatschen. Die Besucher fielen zaghaft ein.
»Die Veranstaltung ist hiermit beendet«, schloss er und steckte das Mikrofon in seine Jackentasche. In Windeseile standen die Scheelbacher auf, steckten die leeren Bierflaschen in die Kästen zurück und verließen ohne ein weiteres Wort das Gemeindehaus. Es war gespenstisch.
Die Fernsehleute drängten Nora zu einem Interview. »Kein Kommentar«, lautete ihre gebetsmühlenartige Antwort. Wenig später stand sie erschüttert alleine im Gemeindehaus und atmete tief durch.
Ein echter Volltreffer, ihr Auftritt!
Ein Mann in
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