Die Voliere (German Edition)
was schlägst du vor, Kiefer? Was sollen wir deiner Meinung nach unternehmen?«
Kiefer holte die Porträts von Lefeber, Rosen und Tibursky zurück auf die Leinwand. Zur Bekräftigung seiner Aussagen tippte er mit dem Zeigefinger auf den weißen Stoff.
»Seid wachsam. Haltet euch untereinander auf dem Laufenden, sobald diese ungebetenen Gäste irgendwo im Dorf auftauchen. Lasst sie nicht in eure Häuser und am besten auch nicht in eure Geschäfte. Dieser Tibursky saß häufiger wegen Betrugsdelikten im Knast als du auf dem Pott, Ludwig. Der hat seine Finger überall. Wenn du nicht aufpasst, auch in deiner Kasse.«
Erneutes Lachen. Die Stimmung im Saal sagte Tobin Kiefer zu, es herrschte die richtige Mischung aus Aufgeregtheit und Ausgelassenheit, um die letzte Bombe hochgehen zu lassen. »Danke für euer Kommen. Wenn wir im Dorf zusammenhalten und diesen Männern deutlich machen, dass sie hier nicht willkommen sind, werden sie sich bald einen anderen Ort suchen, an dem sie ihren Perversionen nachgehen können.«
Die ersten schoben bereits die Stühle zurück, bereit zum Aufbruch.
»Ach ja, eins hätte ich fast vergessen.«
Kiefer legte bewusst eine Pause ein.
»Aus Sicherheitsgründen sollten wir das Dorffest in diesem Jahr ausfallen lassen.«
Zuerst herrschte Grabesstille im Saal. Dann brach der Tumult los.
*
Nora erfuhr von dem Treffen in Scheelbach, als sie mit Agniezka Anghel und ihren Pflegeeltern und -geschwistern im Garten der Familie Riva saß und Apfelkuchen aß. Die Mutter des Mädchens – eine moldawische Prostituierte – war vor drei Jahren vor Agniezkas Augen von einem Serientäter ermordet worden und die Sechsjährige hatte sich für die Ermittler der Frankfurter Kripo als wichtige Zeugin entpuppt. Für eine Ermittlerin aus der fünften Mordkommission war sie allerdings mehr als eine Zeugin gewesen – Noras Helfersyndrom hatte sich mit voller Wucht bemerkbar gemacht.
Heute feierte ihr Schützling den neunten Geburtstag und die Rivas – Agniezkas Pflegefamilie in Aschaffenburg – hatten Nora zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Sie fand es faszinierend, wie schnell Agniezka sich eingelebt hatte. Nur sehr selten, beispielsweise wenn sie wütend war, brach sich ihr osteuropäischer Akzent die Bahn, ansonsten sprach sie astreines Hessisch. Auch ihre schulischen Leistungen konnten sich sehen lassen und darüber hinaus turnte sie erfolgreich im Mädchenkader des TVA 1860.
Ihre Psychotherapie hatte Agniezka vor einem Jahr beendet. Nur die hin und wieder auftretenden Albträume zeugten davon, dass ihre Psyche das Trauma rund um den Drachentöter noch nicht bewältigt hatte. Gleiches galt auch für Nora, was sowohl die Therapie als auch die Albträume betraf.
Das Display ihres Handys konnte den Anrufer nicht zuordnen, aber sie erkannte ihn sofort an seiner behäbigen Aussprache.
»Dein Vater hat mir die Nummer gegeben«, entschuldigte sich Martin Kanther.
»Was gibt’s denn Wichtiges? Ich bin gerade auf einer Geburtstagsfeier.«
»Um die Zeit?«
Es war kurz nach halb sechs.
»Ein Kindergeburtstag. Du erinnerst dich an Agniezka Anghel?«
Natürlich erinnerte er sich, auch wenn er Agniezka persönlich nie kennengelernt hatte.
»Ein Kollege hat mich angerufen. Er ist im Moment bei einem Einsatz im Hochspessart. Was er mir erzählt hat, ist vielleicht interessant für dich: Deinen Schützlingen in Scheelbach weht augenblicklich eine ganz schön steife Brise ins Gesicht.«
»Erstens: Das sind nicht meine Schützlinge. Zweitens: Was meinst du genau mit ›steife Brise‹?«
»Zurzeit findet im Gemeindehaus von Scheelbach eine sogenannte Informationsveranstaltung statt. Wohl eher eine Hetzkampagne. Der Bürgermeister will deine Leute rausekeln. ›Scheelbacher – verkauft nicht an Knackis‹ oder so ähnlich lautet sein Motto. Bis vor ein paar Sekunden lief alles recht gesittet ab. Aber dann hat er den Dörflern damit gedroht, das alljährlich stattfindende Dorffest abzusagen. Sicherheitsbedenken.« Kanther lachte. »Jetzt drehen die total durch.«
In Noras Fantasie formte sich ein Bild aus der Vergangenheit: Eine Horde aufgebrachter Bauern marschiert mit Mistgabeln und Fackeln bewehrt durch den Wald, um eine unliebsame Alte aus ihrer Kate und auf einen Scheiterhaufen zu zerren.
»Vielleicht sollte eine ausgebildete Psychologin hinfahren und zu schlichten versuchen. Bevor sie die drei im Wald aufknüpfen«, sagte Kanther, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Nora bedankte sich für seinen
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