Die Voliere (German Edition)
sein Motorrad an, stülpte den Helm über und ließ den Motor wütend aufheulen, bevor er mit ausbrechendem Hinterrad davonbrauste.
*
Eins. Oder Zwei?
Rosen steht am Fenster seines Zimmers und schaut in den Wald hinaus. Er sieht Lichter auf sich zukommen. Scheinwerfer eines Autos oder vielleicht auch nur ein einzelnes Licht, das kann er nicht erkennen. Seine Augen sind schlechter geworden, nachts ist er fast blind. Längst bräuchte er eine Brille, aber er hat Angst, zum Augenarzt zu gehen.
Die Lichter schwenken auf und ab, während sie sich nähern; immer wenn sie hinter den Baumstämmen verschwinden, ist es einen kurzen Moment schwarz, und dann leuchtet ihm der Strahl wieder direkt in die Augen und Rosen muss blinzeln.
Dann erlöschen sie Lichter plötzlich, auch das Motorengeräusch verstummt. Rosen hört seinen eigenen Atem, hört sein Herz klopfen. Dann wummert es an der Eingangstür des Hauses.
Unten schreit Lefeber: »Moment!« Rosen hört seine Schritte auf dem Holzfußboden in der Diele. Die Eingangstür quietscht. Eine ganze Weile ist alles still.
Dann ruft Lefeber plötzlich die Treppe hinauf. »Kommt ihr mal runter? Sofort.«
Rosen schlüpft in einen Frotteebademantel und zieht die karierten Hausschuhe aus Filz über, die doch noch in einer Plastiktüte aufgetaucht sind. Das gleiche Modell hatte sein Opa früher. Sie sehen selbst für Rosens Verhältnisse furchtbar altmodisch aus, aber sie sind bequem und halten warm.
Unten sitzt Lefeber am Wohnzimmertisch. Die Glut im Ofen ist bereits erloschen, aber ein Nachklang der Wärme schwebt noch im Raum, auch wenn die Kälte bereits durch die Ritzen kriecht.
Lefeber gegenüber sitzen Nora Winter und Bruno Albrecht.
Rosen atmet auf. Die Anwesenheit von Frau Doktor wirkt enorm beruhigend auf ihn. Beruhigender noch als Willi oder Chewbacca, der jetzt in der Tasche seines Hausmantels steckt und von Rosen gekrault wird.
»Setzen Sie sich. Wo ist Tibursky?«, fragt Doktor Winter.
Tibursky fehlt, wie üblich. Nora Winter muss ihn holen. Endlich sitzen alle um den Tisch.
»Wir kommen gerade von einer sogenannten Informationsveranstaltung in Scheelbach. Die Bürger sind sehr besorgt über Ihre Anwesenheit hier in der Schreckenmühle. Man erwägt, das Dorffest abzusagen. Wir dachten, besser Sie erfahren es von uns als aus der Zeitung.«
»Und wie sollen wir uns nun verhalten? Weg können wir ja wohl nicht«, sagt Lefeber.
»Nein, mit diesem Problem müssen wir wohl an jedem Ort rechnen, an dem Sie sich aufhalten. Die Menschen haben eben Angst.«
»Ich habe auch Angst«, sagt Rosen.
»Sie sind halt ein Schisser«, sagt Tibursky und erntet dafür einen wütenden Blick von Rosen.
»Ich empfehle, im Moment den Ball flach zu halten«, sagt Nora Winter.
Welchen Ball? Und was meint sie mit ›flach halten‹? Rosen ist verwirrt, aber er traut sich nicht zu fragen. Tibursky würde sicher wieder eine Gemeinheit von sich geben.
»Bleiben Sie in der näheren Umgebung des Hofes, meiden Sie das Dorf. Einkaufen gehen Sie ohnehin nach Rieneck, das ist in Ordnung.«
»Die Bäckerei«, wirft Lefeber ein und etwas wie Sehnsucht klingt in seiner Stimme mit.
»Beim Discounter gibt es Aufbackbrötchen und sogar Croissants.«
Lefeber verzieht das Gesicht. Es wird deutlich, was er von abgepackten, aufgebackenen Croissants hält.
»Nur für eine Weile. Zwei, drei Wochen vielleicht. Bis die Gemüter sich beruhigt haben. Wenn die Scheelbacher begriffen haben, dass ihnen von der Schreckenmühle keine Gefahr droht, wird sich die Situation normalisieren.«
»Glauben Sie das wirklich? Oder ist das so eine Art Salamitaktik? Am Schluss leben wir hier wie früher die Vögel da draußen in der Voliere«, sagt Lefeber.
In diesem Moment passieren zwei Dinge gleichzeitig: Das Fenster hinter Lefebers Rücken zerspringt in tausend Scherben. Ein Pflasterstein kracht auf den Tisch, rutscht über die Platte und fällt auf der anderen Seite zu Boden. Ein Wunder, dass niemand getroffen oder verletzt wurde, denkt Rosen. Die anderen springen erschrocken auf.
»Sofort weg vom Fenster«, schreit Nora Winter.
Gleichzeitig hämmert jemand an die Eingangstür.
Bruno Albrecht sieht sich suchend um. Er ergreift den Schürhaken neben dem Kachelofen und rennt hinaus in den Gang.
Nora und Lefeber folgen ihm, Rosen hält sich dicht hinter Adam. Albrecht reißt, den Schürhaken hoch erhoben, die Tür auf. Auf dem Treppenabsatz steht eine Papiertüte. Sie brennt lichterloh. Hundert Meter weiter
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