Die volle Wahrheit
nach draußen blicken, ohne dass jemand herein-
sehen konnte. William lauerte eine Zeit lang hinter der Gardine in sei-
nem Zimmer, bis er sicher sein konnte, dass der undeutliche Schemen
auf den Dächern der anderen Straßenseite ein Wasserspeier war.
Normalerweise gab es hier keine Wasserspeier, ebenso wenig wie in
der Schimmerstraße.
Er verließ seinen Platz am Fenster, ging die Treppe hinunter und
dachte dabei daran, dass Wasserspeier keine Langeweile kannten. Es
machte ihnen überhaupt nichts aus, tagelang an einem Ort zu verweilen
und irgendetwas zu beobachten. Andererseits bewegten sie sich zwar schnel er, als viele Menschen glaubten, aber sie waren nicht schneller als Menschen.
William lief so schnel durch die Küche, dass er nur hörte, wie Frau
Arkanum nach Luft schnappte. Dann verließ er das Haus durch den
rückwärtigen Ausgang, schwang sich über die Mauer und sprintete
durch die dahinter liegende Gasse.
Jemand fegte dort. Für einen Augenblick fragte er sich, ob er es mit
einem verkleideten Wächter zu tun hatte, vielleicht sogar mit der ge-
tarnten Schwester Jennifer, aber vermutlich würde sich niemand als
Gnoll verkleiden. Dazu hätte man sich zum Beispiel einen Kompost-
haufen auf den Rücken schnallen müssen. Was Gnolle nicht aßen,
sammelten sie wie besessen. Bisher hatte sich niemand mit diesem Phä-
nomen befasst, um es zu erklären. Vielleicht war eine sorgfältig angeleg-
te Sammlung aus halb verfaultem Kohl ein Indiz für den Status in der
Gnoll-Gesellschaft.
»‘ar’tn’n, H’rr W’rd«, krächzte das Wesen und stützte sich auf den Be-
sen.
»Äh… hal o… äh…«
»S’n’g’k.«
»Ah? Ja. Danke. Auf Wiedersehen.«
Er eilte durch eine andere Gasse, überquerte die Straße und setzte den
Weg durch eine weitere Gasse fort. Er wusste nicht, wie viele Wasser-
speier ihn beobachteten, aber sie brauchten Zeit, um auf die andere
Straßenseite zu gelangen…
Woher hatte der Gnoll seinen Namen gekannt? Sie waren sich wohl
kaum bei einer Party oder dergleichen begegnet. Außerdem arbeiteten
die Gnolle alle für… Paul König…
Nun, die Leute sagten, dass der König des Goldenen Flusses nie jemanden vergaß, der ihm Geld schuldete…
William hastete weiter und nutzte dabei das Labyrinth aus schmalen
Durchgängen, kleinen Höfen und dunklen Passagen so gut wie möglich
aus. Eine normale Person war bestimmt nicht imstande, ihn zu verfol-
gen, aber die Anwesenheit einer normalen Person hätte ihn in diesem
Zusammenhang sehr überrascht. Mumm hielt sich für einen einfachen
Polizisten, so wie sich Paul König für eine Art Rohdiamant hielt. Willi-
am vermutete, dass die Welt übersät war mit Leuten, die sie beim Wort
genommen hatten.
Er wurde langsamer, stieg eine Treppe hinauf und wartete.
Du bist ein Narr, sagte sein innerer Lektor. Jemand hat versucht, dich
umzubringen. Du verbirgst Informationen vor der Wache. Du lässt
dich mit sonderbaren Leuten ein. Was du jetzt vorhast, wird Mumm so
sehr in die Nase steigen, dass es ihm den Helm hebt. Und warum?
Wegen der Aufregung, dachte er. Und weil ich mich nicht benutzen
lassen will. Von niemandem.
Ein leises Geräusch kam vom Ende der Gasse. William hörte es nur
deshalb, weil er damit gerechnet hatte. Es klang nach einem Geschöpf,
das schnupperte.
Er spähte durchs Halbdunkel und sah eine vierbeinige Gestalt, die zu
laufen begann und die Schnauze dabei dicht an den Boden hielt.
William schätzte vorsichtig die Entfernung. Die eigene Unabhängig-
keit zu erklären, war eine Sache. Der Angriff auf einen Angehörigen der
Wache war etwas ganz anderes.
Er warf die Flasche so, dass sie etwa sechs Meter vor dem Werwolf
landete. Dann sprang er von der Treppe auf eine Mauer und von dort
auf das Dach eines Aborts, als das Glas in der Socke mit einem leisen
»Poff!« zerbrach.
Jemand jaulte. Kral en kratzten übers Kopfsteinpflaster.
Vom Dach des Aborts sprang Wil iam auf eine andere Mauer, folgte
mit kurzen, behutsamen Schritten ihrem Verlauf, kletterte in eine Gasse
hinab und lief weiter.
Er versuchte, in den Schatten zu bleiben, nahm Abkürzungen durch
Gebäude und brauchte fünf Minuten, um den Mietstal zu erreichen. In
dem geschäftigen Treiben dort fiel er niemandem auf. Er war nur ein
weiterer Mann, der kam, um sein Pferd zu holen.
In der Box, die zuvor Tiefer Knochen als Versteck gedient hatte,
stand nun ein Pferd. Es starrte Wil iam über seine Schnauze hinweg
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