Die volle Wahrheit
gar
verhängnisvol e Aktivität, denn der Schlüssel war schon vor langer Zeit
verloren gegangen. Wer zu spät kam, warf einfach kleine Steine an die
Fenster der Häuser auf dem Wal , bis er einen Freund fand, der den
Riegel hob. Man ging davon aus, dass feindliche Eroberer nicht wuss-
ten, an welche Fenster sie kleine Steine werfen mussten.
Anschließend stapften Colon und Nobbs durch den Schneematsch
zum Wassertor, das dem Fluss Ankh Gelegenheit gab, die Stadt zu er-
reichen. Das Wasser blieb im Dunkeln verborgen, aber dann und wann
zeichneten sich unter der Brüstung die geisterhaften Konturen einer
Eisscholle ab.
»Warte mal«, sagte Nobby, als sie nach der Winde des Fal gatters grif-
fen. »Da unten ist jemand.«
»Im Fluss?«, fragte Colon.
Er lauschte. Tief unten knarrte ein Ruder.
Feldwebel Colon wölbte die Hände trichterförmig vor dem Mund
und hob die Stimme zum traditionellen Polizistenruf:
»He! Du!«
Einige Sekunden lang hörte man nur das Seufzen des Winds und plät-
scherndes Wasser. Schließlich erwiderte eine Stimme: »Ja?«
»Willst du die Stadt erobern, oder was?«
Wieder folgte kurze Stille. Dann:
»Was?«
»Was was?«, erhöhte Colon den Einsatz.
»Wie lauten die anderen Möglichkeiten?«
»Versuch nicht, mich an der Nase herumzuführen. Willst du, dort un-
ten im Boot, diese Stadt erobern?«
»Nein.«
»Gut«, sagte Colon. In einer solchen Nacht war er durchaus bereit,
sich auf das Wort eines Unbekannten zu verlassen. »Dann beeil dich,
wir wol en nämlich das Gatter herablassen.«
Kurze Zeit später ertönte wieder das Platschen der Ruder und ver-
schwand flussabwärts.
»Glaubst du wirklich, es genügt, einfach zu fragen ?«, ließ sich Nobby vernehmen.
»Die Fremden sollten doch wissen, was sie wollen, oder?«, erwiderte
Colon.
»Ja, aber…«
»Es war nur ein kleines Ruderboot, Nobby. Wenn du all die eisver-
krusteten Stufen an der Landungsbrücke hinuntergehen willst…«
»Nein, Feldwebel.«
»Dann lass uns zum Wachhaus zurückkehren.«
William klappte den Kragen hoch, als er zum Graveur Kratzgut eilte.
Die normalerweise verkehrsreichen Straßen waren leer; wer sich jetzt
draußen aufhielt, musste irgendwelche dringenden Dinge erledigen.
Alles deutete darauf hin, dass ein ziemlich scheußlicher Winter bevor-
stand, ein Gazpacho aus kaltem Nebel, Schnee und dem für Ankh-
Morpork typischen, überal präsenten Smog.
Bei der Uhrmachergilde bemerkte William einen matten Lichtschein.
Eine kleine Gestalt mit hochgezogenen Schultern zeichnete sich in dem
Glühen ab.
Er trat näher.
»Heißes Würstchen?«, erklang eine hoffnungslose Stimme. »Mit Bröt-
chen?«
»Herr Schnapper?«, fragte William.
Treibe-mich-selbst-in-den-Ruin Schnapper, Ankh-Morporks unter-
nehmungslustigster und erfolglosester Geschäftsmann, blickte über
seinen Bauchladen hinweg. Schneeflocken fielen zischend in gerinnen-
des Öl.
William seufzte. »Du bist noch spät auf den Beinen, Herr Schnapper«,
sagte er.
»Ach, Herr Worde, die Zeiten sind schlecht im Würstchengeschäft«,
klagte Schnapper.
»Du läufst Gefahr, vom Fleisch zu fallen, wie?«, fragte William. Selbst
für hundert Dollar und eine Schiffsladung Feigen hätte er nicht auf
diese Bemerkung verzichtet.
»Der Lebensmittelmarkt ist in eine Krise geraten«, sagte Schnapper
und nahm die Anspielung nicht zur Kenntnis. »Heutzutage scheint
niemand mehr Interesse an einem heißen Würstchen zu haben.«
William sah auf den Bauchladen hinab. Wenn Treibe-mich-selbst-in-
den-Ruin Schnapper heiße Würstchen verkaufte, so war das ein sicheres
Zeichen dafür, dass eins seiner ehrgeizigeren Unternehmen zu einem
Fiasko geführt hatte. Der Verkauf von heißen Würstchen stel te gewis-
sermaßen Schnappers ökonomische Basis dar, die er immer wieder zu
verlassen versuchte – und zu der er zurückkehrte, sobald er mit seinem
neuesten geschäftlichen Wagnis scheiterte. Eins musste man Schnapper
lassen: Er verstand es ausgezeichnet, heiße Würstchen zu verkaufen.
Bei der Art seiner Würstchen brauchte er großes Verkaufstalent.
»Wenn ich doch nur eine richtige Bildung hätte, so wie du«, sagte
Schnapper niedergeschlagen. »Eine angenehme Arbeit daheim, ohne
schwere Dinge heben zu müssen. Mit einer guten Bildung hätte ich
bestimmt eine Nitsche für mich gefunden.«
»Nitsche?«
»Ein Zauberer hat mir davon erzählt«, erklärte Schnapper. »Jeder hat
eine Nitsche. Du weißt schon, einen
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