Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vollkommene Lady

Die vollkommene Lady

Titel: Die vollkommene Lady Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margery Sharp
Vom Netzwerk:
ich
wiederkomme!“
    „Du wirst nicht wiederkommen“, sagte
Fred düster. „Sie werden dich festhalten. Diese deine Tochter —“
    Julia überlief es plötzlich kalt.
Bisher hatte sie unbewußt die Existenz dieser Tochter und die Dauer ihrer
Mutterschaft bis zum nächsten Monat begrenzt; aber nun sah sie in die Zukunft.
    Fred Genocchio heiraten, hieß Susan
einen Akrobaten zum Stiefvater geben. Ein Akrobat unter den Packetts! Es war
unausdenkbar, und Julia saß, sich das ausmalend, schweigend und elend da,
während jedes Rütteln der Taxe sie der Gare de Lyon näher brachte.
    „Da ist noch etwas“, sagte Fred
schließlich. Julia wurde sehr ruhig. An dem gezwungenen Ton seiner Stimme und
an seiner scheinbaren Unbefangenheit merkte sie, daß er im Begriff war, ihr ein
Herzensgeheimnis zu enthüllen. „Da ist noch etwas“, sagte Fred. „Es ist mir
niemals gelungen, am hohen Seil einen Salto zu machen. Aber ich habe manchmal
daran gedacht, wenn ich einen Sohn hätte — daß es ihm vielleicht gelingen
würde.“
     
    *
     
    Wie Julia in den Zug gelangt war und
ihren Schlafwagen fand und dem Schaffner das Trinkgeld gab, daran konnte sie
sich niemals genau erinnern. Von dem Augenblick an, seit sie aus der Taxe
stiegen, hatte sie unaufhörlich drauflos geplappert, ohne zu wissen, was sie
sagte, ohne zu hören, was Fred antwortete, ohne irgend etwas wahrzunehmen außer
dem Druck seines Armes an ihrer Seite. Aber sie mußte es trotzdem
fertiggebracht haben; irgendwie, plötzlich, stand sie im Gang, und Fred stand
auf dem Bahnsteig, und zwischen ihnen war eine Glasscheibe.
    Wie zu einer herrlichen Bildsäule
erstarrt, stand er da, regungslos wie ein Felsen — der bestgewachsene Mann, den
Julia je gesehen hatte. Dann, als der Zug sich in Bewegung setzte, schien die
Erde unter ihren Füßen wegzugleiten. Sie winkte einmal, töricht, dann stolperte
sie in ihr Abteil und verschloß die Tür.
    Sie war hundemüde, kein Wunder.
    Sie war zu müde, um zu weinen, viel zu
müde, um noch wach zu liegen. Nach einer kurzen Untersuchung der
Waschgelegenheit — deren Neuheit und sinnvolle Bequemlichkeit ihren günstigen
Eindruck nicht verfehlte — rieb Julia sich schnell das Gesicht mit Creme ein
und zog ihren Pyjama an. Zwei blaue Flecken, auf jedem Unterarm einer, zeugten
von der ungewöhnlichen Kraft von Mr. Genocchios Händedruck. Das war das einzige
Andenken, das sie von ihm besaß, und auch das würde vergehen...
    Julia schlüpfte in ihre Koje und war
gerade im Begriff, einzuschlafen, als sie gegenüber eine schmale und von ihr
noch nicht bemerkte Tür gewahrte. Die Neugier zwang sie, noch einmal
aufzustehen und den Riegel zur Seite zu schieben. Sie blickte nicht wie
erwartet in das Innere eines Schränkchens, sondern in das benachbarte leere
Abteil.
    Praktisch, dachte Julia.
    Dann stieg sie wieder in ihr Bett und
schlief wie ein Stein.
     
     
     

5
     
    Z ehn Minuten bevor der Zug in Ambérieu
hielt, es war genau zwanzig Minuten nach sechs, setzte Julia den neuen,
ehrbaren Hut auf und musterte sich prüfend im Spiegel.
    Irgend etwas stimmte nicht. Der Hut an
sich war schon recht und war sein Geld wert, aber er stand Julia nicht.
Vielleicht hatten die Ereignisse des vergangenen Tages zu viele Spuren
hinterlassen. Sie hatte so einen gewissen verräterischen Zug im Gesicht, etwas
Verwegen-Fröhliches, aber auch etwas Müdes.
    Man merkt mir an, daß ich zu wenig
geschlafen habe, dachte Julia und schob den Hut etwas zur Seite. Es war ein leichter
brauner Strohhut, pilzförmig, mit einer Bandrosette über der Stirn. Aber es
paßte nicht zu seiner Art, so schief getragen zu werden, wie Julia ihn trug.
Eine Herzoginwitwe, der man auf einem Fest statt Bowle Champagner gereicht
hatte, würde die gleiche Wirkung erzielt haben. Aber das war es nicht, was
Julia vorschwebte. Sie nahm das Ding ab, drückte es sich energisch wieder auf
den Kopf und musterte sich von neuem. Unter der geraden Krempe blickten ihre
runden, schwarzen Augen mit einem Ausdruck gutmütigen Erstaunens hervor. Der
volle Mund, das weiche Kinn hatten nichts unter einem solchen Hut zu suchen. Du
hast ganz recht, sagte Julia zu ihrem Spiegelbild, aber zum Teufel noch mal,
ich werde ihn trotzdem aufbehalten. Weißt du denn nicht, daß es genau die Sorte
Hut ist, nach der sie Ausschau halten wird?
    Vor dem Gedanken an ihre Tochter
verblaßte alles andere. Der Zug fuhr schon ganz langsam; Julia ergriff ihren
kleineren Koffer und lief den Gang entlang. Sie wollte sofort

Weitere Kostenlose Bücher