Die vollkommene Lady
was sie wollte.
„Natürlich“, sagte die ältere Dame. „Selbstverständlich
gern.“ Und Julia schlüpfte hinein.
Es war eine sehr unterhaltsame Fahrt.
Der Wagen fuhr weich und schnell dahin, und die beiden Samariter hatten keine
Ursache, ihre Freundlichkeit zu bereuen. Denn ihr neuer Fahrgast erwies sich
als eine äußerst interessante Bekanntschaft, die ihnen eine Fülle reizender
Geschichten von ihren drei Kindern — Ronald, Rachel und Elisabeth — erzählte,
die sie in Aix mit ihrer Gouvernante verlassen hatte. „Ich sage verlassen“,
bemerkte Julia mit einem anmutigen humorvollen Lächeln, „obwohl ich nur drei
Stunden von ihnen fort war. Ich hatte nämlich den Eindruck, daß Miß Graham —
meine Gouvernante — die Kinder gern etwas für sich allein haben wollte. Ich
glaube, sie denkt immer, ich bin nicht streng genug.“
„Und schließlich haben sie doch wohl
Ferien“, sagte die eine Miß Marlow nachsichtig.
Julia nickte. „Das sage ich auch immer.
Und dabei haben sie doch jeden Morgen Unterricht. Französischen. Deshalb bin
ich ja mit ihnen hergekommen.“
„Halten Sie Genf für diesen Zweck nicht
geeigneter?“ fragte die jüngere Schwester. „Ich finde, Aix ist ein bißchen...“
„Ach, wir sind nur meiner Tante wegen
hier“, fiel Julia ein. „Sie gebraucht hier die Kur und wollte mich so gern bei
sich haben. Sie hat mich erzogen, und wir fürchten, daß wir sie nicht mehr
allzulange behalten werden. Kennen Sie übrigens Yorkshire?“
Sie kannten es nicht, und Julia
erzählte ihnen ausführlich von ihrer Kindheit in einem düsteren Hause, das am
Rande eines Torfmoores lag. Julias Phantasie, die schon sechs Tage brachgelegen
hatte, ergriff die Gelegenheit, sich endlich wieder auszutoben. Anschauliche
Einzelheiten und eine Menge bunter Kindheitserinnerungen sprangen ihr eine nach
der anderen über die Lippen.
Sie hatte auf durchgehenden Ponys
gesessen; sie hatte sich im plötzlich aufkommenden Nebel verirrt; sie hatte
sich im Schneetreiben aufgemacht, um ein verlorengegangenes Lamm zu suchen...
Die beiden Misses Marlow lauschten entzückt und Julia selbst nicht minder. Sie
log nicht, sie unterhielt nur; und das verstand sie so gut, daß sie alle
überrascht waren, als die ersten Häuser von Aix auftauchten.
„Wie schnell die Fahrt vergangen ist!“
rief die Ältere aus, ohne Julia schmeicheln zu wollen. „Wo können wir Sie
absetzen?“
Julia zögerte. Die geographische Lage
von Aix war ihr völlig unbekannt. Das einzige Gebäude, von dessen Existenz in
dieser Stadt sie bestimmt wußte, war das Kasino. Und obwohl sie es doch nun,
nach Beendigung der Fahrt, ohne weiteres als ihr Ziel hätte angeben können,
empfand sie eine Hemmung, weil es sich nicht mit ihrer künstlerischen
Gewissenhaftigkeit vertrug, zum Schluß noch aus der Rolle zu fallen. Es war ihr
unmöglich, nach der rührenden Geschichte von dem Lamm so unmittelbar das Wort
Kasino in den Mund zu nehmen. Sie war es den beiden hilfsbereiten Damen einfach
schuldig, ihnen den guten Eindruck von ihr nicht zu verderben. Aber es blieb
ihr nichts anderes übrig, denn zu lange zögern durfte sie auch nicht. Eine so
liebevolle Mutter konnte nicht gut vergessen haben, wo sie sich mit ihren
Kindern treffen wollte.
„Am Kasino, bitte“, sagte Julia also. „Es
ist ja gerade kein sehr passender Ort, aber meine Tante hat eine Schwäche
dafür. „
„Am Nachmittag kann man da ruhig
hingehen, finde ich“, sagte die eine Miß Marlow lächelnd. „Nachmittags ist es
da ganz harmlos.“
*
Nachdem Mrs. Packett ein paar angenehme
Stunden damit zugebracht hatte, Rezepte aufzuschreiben, verließ sie um halb
vier Uhr ihr Zimmer und traf Susan und Bryan noch unter den Pinien an. Bryan
las einen französischen Roman, Susan in einem Band von Molière. Als sie ihre
Großmutter kommen sah, legte sie das Buch aus der Hand und griff nach der
Kuhglocke, um nach Claudia mit dem Tee zu läuten. „Wo ist Julia?“ fragte Mrs.
Packett.
Bryan sah auf. „Sie sprach davon, sie
wolle einen Spaziergang machen. Wahrscheinlich ist sie in irgendeinem Café
hängengeblieben.“
„Mein Gott!“ rief Mrs. Packett. „Bei
dieser Hitze! Und vor Belley gibt es doch keine anständige Konditorei.
Hoffentlich mutet sie sich nicht zuviel zu.“
Susan allein zeigte keine Besorgnis
über ihre Mutter. Sie trank ihren Tee, warf zwischendurch einen Blick in ihren
Molière und beteiligte sich kaum an der Unterhaltung. Es war charakteristisch
für sie, daß,
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