Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vollkommene Lady

Die vollkommene Lady

Titel: Die vollkommene Lady Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margery Sharp
Vom Netzwerk:
machte kehrt und ging die wenigen
Schritte langsam zurück. Und wenn sie dafür ins Gefängnis kam — unter drei
Manhattans würde sie es nicht tun! Und als sie so an der Hecke entlangschritt
und noch einmal hinübersah, huschte es ihr durch den Sinn, daß es vielleicht
auch ohne Gefängnis gehen würde. An mehreren Tischen saßen nämlich einzelne
Herren. Einige von ihnen warteten offensichtlich auf jemand, aber ein paar
schienen eher erst Gesellschaft zu suchen, und diese musterte Julia mit
erfahrenem Blick. Ihre Wahl fiel auf einen gedrungenen, wohlhabend aussehenden
Angelsachsen mittleren Alters, dessen korrekte Haltung durch den interessiert
umherschweifenden Blick eines Weltmannes gemildert wurde. Ein glücklicher
Zufall wollte es, daß neben ihm ein Tisch frei war, und Julia steuerte
unverzüglich darauf zu.
    Ihre nächste Aufgabe war, sich auf zwei
Augenpaare zu konzentrieren — die Aufmerksamkeit des einen auf sich zu lenken
und dem anderen auszuweichen. Das erste gehörte ihrem Nachbarn, das zweite dem
Kellner; und beides gelang ihr, denn die Terrasse war so stark besetzt, daß ein
Gast, der sich nicht selbst rührte, der Wachsamkeit der Bedienung wohl entgehen
konnte, während Mr. Rickaby — so hieß der wohlhabend aussehende Herr am
Nebentisch — es an Aufmerksamkeit nicht fehlen ließ.Julia saß noch keine zwei
Minuten, als sich ihre Augen schon trafen. Sie sah ihn nur mit einem abwesenden
Blick an, der so nützlich ist, um auf den andern einen tiefen Eindruck zu
machen, ohne sich selbst etwas dadurch zu vergeben, und blickte wenigstens zehn
Sekunden lang in seine Richtung, ehe sie ihre Augen wieder wegwandte. Aber bald
darauf hatte sie wieder einen träumerischen Ausdruck, und das gleiche Spiel
wiederholte sich. Beim dritten Male sprach Mr. Rickaby sie an.
    „Die Bedienung läßt zu wünschen übrig,
nicht wahr?“
    „Ja, es ist schrecklich“, erwiderte
Julia mit einem ermunternden Lächeln.
    Es ermunterte Mr. Rickaby so sehr, daß
er mit seinem Stuhl so nahe heranrückte, daß er praktisch an ihren Tisch zu
sitzen kam.
    „Warten Sie auf jemand?“ fragte er.
    Julia verzog den Mund und zuckte mit
den Achseln. Instinktiv hatte sie genau das Richtige getroffen — einen leicht
schmerzlichen Zynismus — und Mr. Rickaby schien nur darauf gewartet zu haben,
sie zu trösten. Sie war schon beinahe davon überzeugt, daß er ein Mann war, dem
es Freude machte, Gutes zu tun.
    „Was Ihnen vor allem fehlt, ist etwas zu
trinken“, sagte Mr. Rickaby, und ohne zu fragen, winkte er energisch den
Kellner herbei und bestellte zwei Martinis. Damit bewies er, daß er jedenfalls
ein Mann war, der zu handeln versteht.
    „Danke“, sagte Julia leichthin. Sie
fand es noch zu früh, ihre Dankbarkeit wärmer zu äußern, aber sie wandte ihm
dreiviertel ihres Gesichts zu — nicht das Profil, wegen ihres Ansatzes zum
Doppelkinn, starrte in die Ferne und bot ihm so Gelegenheit, sie genau zu
mustern. Mr. Rickaby wußte augenscheinlich, was er vor sich sah, zu schätzen,
denn als die Cocktails kamen, sprach er sein Wohlgefallen sogleich beredt aus.
    „Unsere Augen sind sich begegnet“,
zitierte Mr. Rickaby zärtlich, „unsere Lippen noch nicht — laßt uns hoffen!
Sind Sie allein hier?“
    „Im Moment ja“, sagte Julia.
    „Aber nicht für lange?“ vermutete Mr.
Rickaby.
    Julia zuckte wiederum mit den Achseln.
    „Ich bin ganz allein in Aix“, sprach
sie weiter, „ohne Gepäck und ohne einen Penny. Deshalb bleibt mir wirklich
nichts übrig als die Hoffnung.“
    Die Mischung von Pathos und Tapferkeit
in ihrer Stimme rührte sie beide. Mr. Rickaby gab sympathisierende Laute von
sich, und Julia fühlte in ihren Augen — ohne irgendwelche Anstrengung — die
Tränen aufsteigen. Es klang wirklich schrecklich, wenn man es so nüchtern
heraussagte... Es fragte sich nur, ob es nicht zu schrecklich klang? Hatte es
ihn womöglich abgeschreckt? Für alle Fälle rückte Julia etwas vom Pathos ab und
näherte sich mehr der Tapferkeit.
    „Ich benehme mich ganz töricht“, sagte
sie kindlich. „Es gibt bestimmt noch Schlimmeres.“
    „Arme kleine Frau!“ sagte Mr. Rickaby.
    Julias antwortender Seufzer entsprang
zum Teil ihrer Erleichterung. Es war O. K., sie hatte sich nicht geirrt, er war
tatsächlich gutmütig. Mit einer plötzlichen Eingebung erkannte sie ihn als
einen Menschen, der gern gut lebte, aber gelegentlich Gewissensbisse hatte, als
einen Mann, dem die Möglichkeit, sein Vergnügen mit einem guten Werk

Weitere Kostenlose Bücher