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Die vollkommene Lady

Die vollkommene Lady

Titel: Die vollkommene Lady Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margery Sharp
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wenn sie nicht angesprochen werden wollte, auch niemand mit ihr
sprach. Sie hatte die Fähigkeit, sich gleichsam in einen Mantel des Schweigens
zu hüllen, in dessen Schutz sie sich höflich, aber unerbittlich von der
Gesellschaft zurückzog. „Packett in ihrer Wolke“, war ein von ihren
Mitschülerinnen geprägter Ausdruck dafür; und jetzt befand sie sich in ihrer
Wolke. Aber in Gedanken beschäftigte sie sich auch mit der abwesenden Julia.
    Warum ist jetzt nur alles so anders?
grübelte Susan. Wir leben doch genau so wie vor ihrem Kommen, und doch hat sich
alles verändert. Zum Teil lag diese Veränderung auch in der Tatsache begründet,
daß sie selbst nicht mehr der unbestrittene Mittelpunkt ihres kleinen Kreises
war — daß die Aufmerksamkeit von Bryan und Mrs. Packett, die sich früher auf
sie allein konzentriert hatte, sich jetzt gelegentlich auch Julia zuwandte,
aber dessen war sie sich nicht deutlich bewußt. Sie spürte nur, wenn auch nur
im Unterbewußtsein, daß sich ein allgemeines Sichgehenlassen irgendwie
bemerkbar machte. Sie konnte es nicht durch irgend etwas Bestimmtes beweisen;
sie fühlte nur, daß es immer schwieriger wurde, Bryan zu beeinflussen. Und
gerade das schien ihr jetzt von äußerster Wichtigkeit. Es lag ihr so viel
daran, daß Bryan auf Sir William einen guten Eindruck machte und ihn nicht nur
von der Aufrichtigkeit seiner Liebe zu ihr, sondern auch von seiner beruflichen
Tüchtigkeit überzeugte. Sie wollte Bryan gern als einen Mann vorstellen, der
eine große Zukunft vor sich hat, was er auch zweifellos haben würde, wenn er
sich nur ein kleines bißchen anstrengte.
    Es hängt alles von den Menschen ab, mit
denen er zusammenkommt, dachte Susan. Sie war viel zu wohlerzogen, als daß sie
auch nur in Gedanken hinzugefügt hätte, Bryan befände sich in Gegenwart ihrer
Mutter in schlechter Gesellschaft. Aber es ging ihr durch den Sinn, daß Julia
nun eigentlich von Muzin genug haben müsse.
    „Wenn Onkel William mit dem Wagen nach
Paris zurückfährt“, sagte sie beiläufig, „könnte Julia ihn vielleicht
begleiten.“
    Mrs. Packett sah sie erstaunt an. „Hat
sie irgend etwas darüber geäußert, daß sie schon so bald wieder weg möchte?“
    „Nein, aber es wäre doch eine nette
Abwechslung und die einzige Gelegenheit für sie, ein bißchen mehr von
Frankreich kennenzulernen. ‘ *
    „Ich dachte, sie würde so lange
bleiben, bis wir auch wegfahren“, sagte Mrs. Packett. „Ich möchte doch so gern
über den Kanal fliegen, und ich bin überzeugt, Julia würde mich gewiß
begleiten, wenn du es nicht tun willst.“
    Susan schwieg.
    „Sie muß fürchterlich erhitzt sein,
wenn sie die ganze Zeit unterwegs ist“, fügte Mrs. Packett besorgt hinzu. „Hoffentlich
hat sie wenigstens irgendwo Tee getrunken.“
    Auch dazu schwieg Susan.
     
    *
     
    Für das besorgte Herz der alten Dame
war es nur gut, daß ihr Blick nicht bis zu der Place du Renard reichte. Denn
dort stand Julia in diesem Augenblick in einem höchst beklagenswerten Zustand
von Hitze und Durst. Sie kam sich in Aix so verlassen vor wie in einer Wüste.
In fünf Sekunden hatte sie ihre fünf Francs verloren, sie war keinem Millionär
begegnet — wenigstens keinem ohne Damenbegleitung — und hatte auch nicht ein
einziges Auto mit einem Wappen gesehen. Ihre Füße schmerzten sie so, daß sie
nicht einmal Lust verspürte, sich die Läden anzuschauen. Sie war so
verzweifelt, daß sie, wenn die Tablette, die sie bei sich trug, wirklich Gift
gewesen wäre, sie womöglich genommen hätte.
    Um den Kelch ihres Leidens
vollzumachen, sah sie sich auch noch einem großen Café mit dem elegantesten
Publikum gegenüber. Die breite Terrasse war von der Straße durch eine sauber
geschnittene Hecke abgegrenzt, die Julia gerade bis ans Kinn ging. Sie konnte
nicht umhin, über diese Hecke hinweg einen Blick auf die glücklichen Menschen
zu werfen, die dahinter saßen. Sie sah wunderschöne Frauen in weißen Hüten und
weniger schöne Männer, die offensichtlich bezahlen mußten, was die Damen
verzehrten. Bei dem Anblick der vielen Getränke wurde es Julia ganz schwach.
Sie hatte so fürchterlichen Durst; sie mußte unbedingt etwas trinken. Infolge
der Hitze, ihrer Enttäuschung und Müdigkeit hatte sie das Gefühl, sie sei noch
nie im Leben so durstig gewesen.
    Als sie am Ende der Terrasse angekommen
war, war aus ihrem Verlangen ein fester Entschluß geworden. Sie mußte nicht nur
etwas trinken — sie würde etwas trinken!
    Julia

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