Die vollkommene Lady
zu
verbinden, als wahre Gottesfügung erscheinen mußte.
„Erzählen Sie mir alles“, sagte Mr.
Rickaby. „Erzählen Sie mir, wie Sie hierhergekommen sind.“
„Mit Lucien“, sagte Julia.
„Luden?“
„Dem Modezeichner“, erklärte Julia.
Wie, vermochte sie nicht zu sagen, denn diese zweifelhafte Gestalt hatte eben
erst in ihrer Phantasie deutliche Formen angenommen. Lucien, der Modezeichner...
ein Mann um die Fünfzig, groß, schwer, mit engstehenden, kaffeebraunen Augen...
„Nie von ihm gehört“, sagte Mr. Rickaby
mit einem gewissen Stolz. „Wohl ein Ausländer?“
„Armenier“, berichtete Julia. „Lucien
ist nur sein Geschäftsname.“
„Armenier! Mein Gott!“ rief Mr. Rickaby
aus.
Julia seufzte zustimmend.
„Ich hätte ihm nicht trauen sollen“,
sagte sie niedergeschlagen.
„Und er hat Sie einfach hier
sitzenlassen?“
Julia schluckte. „Heute morgen — als
wir aus dem Hotel kamen — saß eine andere Frau im Auto... eine Person, die er
gerade erst kennengelernt hatte, eine sehr große, aschblond, mit dunklen
Augenbrauen.“
„Ich glaube, die habe ich hier schon
gesehen“, sagte Mr. Rickaby.
Einen Augenblick lang war Julia selbst
überwältigt von der Wirkung ihrer Erfindungsgabe.
„Die meine ich nicht“, sagte sie
hastig. „Die andere ist erst gestern abend hier aufgetaucht. Aber sie hatte
sich’s bereits in seinem Wagen bequem gemacht, und natürlich ließ ich mir das
nicht bieten. Ich nahm auch kein Blatt vor den Mund. Und dann — können Sie sich
das vorstellen? — fuhr er einfach mit ihr davon...“
„Nein!“
„...mit meinem Gepäck im Rücksitz!“
Es war eine gute, interessante
Geschichte, und Julia war direkt stolz darauf. Sie wirkte in jeder Hinsicht
überzeugend und weckte überdies in Mr. Rickaby das angenehme Gefühl einer
gerechten Empörung. Die Ausdrücke, mit denen er diesen Lucien bedachte, waren
hart, aber verdient. Nichts — davon war auch Julia überzeugt — war zu schlecht
für diesen Teufel von einem Modezeichner — besonders wenn man wußte, wie er
seine Nähmädchen behandelte. Julias Einbildungskraft war so angeregt, daß sie
geradezu eine Vision von seinen armenischen Exzessen hatte. Denn dieser Lucien
hatte inzwischen in ihrer Phantasie so feste Gestalt angenommen, daß sie sich
zum Beispiel genau vorstellen konnte, was sich abspielte, wenn er eines seiner
Mädchen abends länger dabehielt. Aber sie riß sich zusammen; sie wollte ihn
nicht unnötig verleumden; und die nächste Nummer ihres Programms war schon
überfällig.
„Nun erzählen Sie mir aber auch von
sich“, bat Julia ernst.
Mr. Rickaby erzählte. Seine Geschichte
war zwar nicht annähernd so aufregend wie die Julias, aber sie war genau das,
was Julia zu hören wünschte. Er war allein in Aix und fand es ziemlich
langweilig. Er war überarbeitet gewesen — überbeansprucht, wie er es nannte —,
und sein Arzt hatte ihm vor allem Luftveränderung verordnet. Er hatte sich so
sehr nach jemandem gesehnt, mit dem er sich aussprechen konnte, und innerhalb
der nächsten halben Stunde erfuhr Julia alles über die komplizierten
Verhandlungen — Verschmelzung von zwei Herrenbekleidungsfirmen —, die zu seiner
Überarbeitung und damit zu seiner Anwesenheit in Aix geführt hatten. Es war die
Art Erzählung, die Julia schon oft zu hören bekommen hatte, und sie verstand es
so geschickt, die richtigen Fragen zu stellen, daß Mr. Rickaby eine sehr hohe
Meinung von ihrer Intelligenz bekam.
„Sie sind so verständnisvoll“, sagte er
schließlich, „und so eine kluge Frau.“
„Es ist ja so interessant“, sagte Julia
bescheiden.
Mr. Rickaby schlug mit der Hand leicht
auf den Tisch. „Das ist es ja gerade. Sie interessieren sich dafür, weil Sie
eine kluge Frau sind. Meine Frau bringt auch nicht eine Spur von Interesse auf.
Und warum nicht? Weil sie mich nicht versteht.“
Aus reiner Gewohnheit sah Julia auf die
Uhr. Denn viele Jahre hatte sie mit einer ihrer Freundinnen eine Dauerwette
gehabt, daß jeder Mann das innerhalb der ersten Stunde ihrer Bekanntschaft
sagen würde. Die Freundin hatte sogar behauptet, in der ersten halben Stunde;
und sie hatten einen Riesenspaß daran gehabt, ihre Partner sozusagen in
Stellung zu bringen — indem Julia die Erklärung hinauszögerte und Luise
versuchte, sie zu beschleunigen; und wer verlor, mußte der andern ein Frühstück
spendieren. Die gute alte Luise, dachte Julia mit einem Anflug von
Zärtlichkeit. Sie hatte monatelang nicht
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