Die Waechter der Teufelsbibel - Historischer Roman
zu dem reglosen Bündel Kleidung. Eine fast abergläubische Stimmung wollte ihn überkommen, doch als er nahe genug heran war, sah er, dass es nicht der Geist des Abgestürzten war, der sprach. Blut lief ihm aus dem Mund, aus der Nase und aus den Ohren, doch seine Lippen bewegten sich. Seine Augen waren riesig. Wohin er blickte, konnte Cyprian nicht erkennen, doch er nahm an, dass es nichts war, was man sehen konnte, wenn man noch eine Überlebenschance hatte.
»Ich habe die Bücher ausgetauscht, Kassandra«, sagte der sterbende Priester. »Schon vor Tagen. Sie hatten recht damit, dass die Teufelsbibel nur ein Symbol ist. Sie haben seit Tagen vor der Kopie gebetet, und Sie haben es nicht gemerkt.«
Cyprian fühlte sich so müde, dass ihn nur noch die Angst um seine Tochter auf den Beinen hielt. Er zwang sich, nach oben zur Brücke zu sehen. Alexandra hing noch immer halb im Freien, von Kassandra gehalten. Er bildete sich ein zu sehen, dass die Arme der Burgherrin zitterten, und ertappte sich dabei, wie er im Stillen um die Unversehrtheit seiner Tochterbetete. Der Sieg über Heinrich hätte die Rettung sein sollen; tatsächlich war ihre Lage noch immer so schlimm wie zuvor, und alles, was er erreicht hatte, waren ein paar schmerzende Stellen an seinem Körper. Er war so hilflos, dass es ihn beinahe der Fähigkeit beraubte zu denken. Er konnte versuchen, in die Burg einzudringen und zu Alexandra zu gelangen, aber selbst wenn er bis zur Brücke kam, brauchte Kassandra nur loszulassen, und Alexandra wäre verloren. Zwischen ihr und dem Tod standen nur noch Agnes, der die alte Decke vom Kopf geglitten war und die mit ebenso zitternden Armen die Teufelsbibel festhielt, Leona und die ruhige, hohle Stimme des Priesters, die aus einem zerschmetterten Körper kam und immer leiser wurde.
»Nach den Seiten mit den Abschriften des Cosmas von Prag«, sagte der Priester, »kurz vor dem Ende, kommen im Original die Regeln des heiligen Benedikt. Sie bestehen aus dreiundsiebzig Kapiteln. In der Teufelsbibel allerdings steht noch eine vierundsiebzigste Regel. Möglicherweise ist dort der Schlüssel zum Verständnis des ganzen Codex versteckt. Ich habe es nie herausgefunden.«
»Sieh nach«, sagte Kassandra.
Cyprian nickte Agnes zu. Sich zu weigern, hatte keinen Sinn. Wenn die weiße Frau dort oben beschloss, Alexandra in den Tod zu stürzen, wäre immer noch ausreichend Gelegenheit, ihren Schatz in die Flammen zu werfen.
»Nach den Cosmas-Texten kommt eine Namenliste und dann ein Kalender«, sagte Agnes. »Ich finde keine Benediktsregeln.«
»Weil diese Seiten in der Kopie fehlen.«
Das Schweigen zog sich lange hin.
»Geben Sie auf, Kassandra«, flüsterte der Sterbende. »Retten Sie Ihre Seele.«
Cyprian wusste nicht, ob sie es gehört hatte. Er hielt die Stille nicht mehr aus.
»Alexandra?«
»Ja?«
»Hab keine Angst!«
»Gut.« Sie begann zu schluchzen. Cyprian sah die Tränen über Agnes’ Gesicht laufen. All die langen Wochen seiner Gefangenschaft hatte er davon geträumt, wie es wäre, wenn er vor ihr stünde und ihr klar würde, dass er nicht tot war, dass er sein Versprechen gehalten hatte und zurückgekehrt war. In seinem Traum war diese Szene hier nicht vorgekommen.
»Wo ist das Original?«, fragte Kassandra mit unnatürlich ruhiger Stimme. Dann kreischte sie wie eine Wahnsinnige: »FILIPPO, WO IST DAS ORIGINAL?«
Die Augen des Priesters namens Filippo waren jetzt auf Cyprian gerichtet.
»Der Gral«, wisperte Filippo. »Die Teufelsbibel ist nicht der Gral. Es gibt keinen Gral. Die Geschichte von Parzival will uns sagen, dass das Gefäß, in dem das Wesen Gottes aufgefangen worden ist, die Seele jedes einzelnen Menschen ist. Gott setzt darauf, dass unsere Seelen stark sind im Glauben. Der Teufel setzt nur auf unsere Schwäche, und daher muss er verlieren. Alexandra hat mir diese Stärke gezeigt. Sie hat mich erkennen lassen, was ich tun muss. Wohin ich gehen muss.«
»WO IST DAS ORIGINAL?«
Filippo schaute ihn unverwandt an. Sein Blick sagte: Ich habe alles getan, was ich konnte. Jetzt musst du sehen, was du daraus machen kannst. Sein Mund zuckte. Er hauchte etwas. Cyprian beugte sich zu ihm hinab.
»Quo vadis, domine?« , fragte Filippo.
Cyprian seufzte und richtete sich auf. Nach einem Moment erkannte er, dass Filippo gestorben war. Er hob die Hand und schloss ihm die Lider. Er hatte das schmerzhafte Gefühl, einen Freund verloren zu haben, den er nie gekannt hatte. Er sah zerknittertes Pergament, das
Weitere Kostenlose Bücher