Die Wächter von Jerusalem
zehn Jahre, welche die Janitscharen betreffen . Außerdem alles, was je über sie geschrieben wurde.«
Saadi hob überrascht die Augenbrauen. »Ich bitte um Vergebung , verehrter Schwiegervater, aber das ist eine nahezu unüberschaubare Menge an Schriftrollen und Büchern. Gibt es etwas Bestimmtes, wonach Ihr sucht? Das könnte helfen, den Kreis der in Frage kommenden Schriften einzugrenzen.«
Özdemir schüttelte den Kopf und rieb sich die Stirn. Bohrende Kopfschmerzen stellten sich ein, wie jedes Mal, wenn er das Gefühl hatte, er sei der Lage nicht mehr gewachsen. In letzter Zeit geschah es immer öfter. Er wurde allmählich alt.
»Nein, ich suche nichts Bestimmtes. Es ist nur …« Er seufzte. »Ich will ehrlich zu dir sein, Saadi. Ich hatte eben mit Ibrahim, dem Meister der Suppenschüssel, ein Gespräch. Und ich bin mir nicht sicher, ob wir den Janitscharen wirklich so vertrauen können, wie wir bisher geglaubt haben. Ich weiß, dass Suleiman der Prächtige, Allah möge ihn und seine Nachkommen segnen, große Stücke auf sie hält. Sie sind die Stützen seines Reiches. Doch vielleicht haben wir uns zu sehr auf ihre Ergebenheit verlassen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren , dass sie mehr Rechte haben, als ihnen zustehen.« Er hielt einen Moment inne. Der Kopfschmerz wurde von Atemzug zu Atemzug stärker. »Die Janitscharen sind zahlreich, und sie sind bewaffnet, Saadi. Wenn sie uns angreifen würden, könnten wir uns lediglich mit Dolchen und bloßen Fäusten gegen ihre Säbel verteidigen. Istanbul aber ist weit, Suleimans Augen und Ohren reichen nicht bis hierher, und bis Hilfe käme …« Er zuckte resigniert mit der Schulter. »Ich mache mir Sorgen, mein Sohn, ernsthafte Sorgen. Dieses Reich wäre nicht das erste, dessen Untergang durch einen Soldaten-Aufstand besiegelt werden würde.«
Saadi nickte mit ernstem Gesicht. »Ich verstehe, verehrter Schwiegervater. Ich werde Euch also alles bringen, was ich über die Janitscharen finden kann. Doch die Suche danach wird vermutlich einige Zeit in Anspruch nehmen.«
»Ich brauche die Schriften nicht heute, Saadi. Auch nicht morgen. Wichtig ist nur, dass ich sie überhaupt bekomme. Ich danke dir, mein Sohn. Und sprich mit niemandem darüber, hörst du? Das bleibt allein unter uns.«
»Natürlich.«
Saadi verneigte sich und eilte davon. Özdemir lehnte sich erschöpft auf seinem Thron zurück. Eigentlich hätte er jetzt erleichtert sein sollen. Ibrahim würde sich um die Juden und Christen kümmern, Saadi um die Janitscharen. Er hatte alles , was nötig war, in die Wege geleitet. Und er war überzeugt , dass Saadi seine Bitte schnell und zuverlässig ausführen würde. Er war schließlich sein Schwiegersohn. Ein Mann, dem er blind vertrauen konnte.
Wenigstens einer, dachte Özdemir. Der Kopfschmerz hatte mittlerweile eine Stärke erreicht, die ihm Übelkeit verursachte. Wenigstens ein Mann in dieser Stadt, dem ich wirklich vertrauen kann. Wenn das kein Grund zur Freude ist.
Anne und Rashid
Anne saß in einem bequemen Sessel in der Bibliothek. Zum wiederholten Male war sie von Cosimo und Anselmo in das komplizierte Geflecht eingewiesen worden, in dem sich die Menschen in Jerusalem Tag für Tag bewegten. Mittlerweile ging es auf die Mittagszeit zu, und ihr schwirrte der Kopf. Die beiden hatten wieder versucht, ihr alles über die drei Religionen zu erzählen, die auf dem engen Raum innerhalb der Stadtmauern miteinander leben mussten. Sie hatten ihr erzählt , in welchem Viertel die Juden wohnten, wo man hauptsächlich Christen traf und welche Straßen in fester Hand der Moslems waren. Sie wusste jetzt, wo sie sich nur verschleiert zeigen durfte, an welchen Tagen sie als Frau das Haus besser nicht verließ und wo sie als Christin nicht einkaufen sollte. Das Leben in dieser Stadt schien ein einziger Spagat zwischen Verboten, Pflichten und der von den Gesetzen des Sultans erzwungenen Rücksichtnahme auf die Bräuche der anderen zu sein. Entweder war Jerusalem viel zu klein oder aber der menschliche Geist, um den drei großen Religionen ein friedliches Nebeneinander zu ermöglichen. Das war das Einzige, was sie nach den stundenlangen Erklärungen begriffen hatte. Allmählich konnte sie Anselmo verstehen.
»Ich weiß, es klingt, als wäre Jerusalem ein einziges Tollhaus «, sagte Cosimo lächelnd, als hätte er ihre Gedanken erraten , »aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Die meisten Menschen, die hier leben, sind friedlich und wollen selbst nur in
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