Die Wächter von Jerusalem
Kaufmann . Aber … Nein, das glaube ich nicht. Das ist gar kein jüdischer Kaufmann! Das ist Özdemir, der Statthalter! Was sucht er denn hier, so spät und noch dazu verkleidet?«
Jetzt wurde auch Anne neugierig und spähte durch das zweite Loch.
Der »jüdische Kaufmann« hatte mit seiner Kopfbedeckung auch seine Schläfenlocken und den falschen Bart abgenommen.
»Verzeiht diese Verkleidung«, sagte er gerade zu dem ziemlich überrascht dreinblickenden Cosimo. »Aber es musste unbedingt geheim bleiben, dass ich Euch aufsuche.«
»Ja, gewiss«, erwiderte Cosimo, dann deutete er auf einen der Stühle. »Aber bitte, setzt Euch doch, verehrter Özdemir. Was verschafft mir denn die Ehre Eures Besuches?«
Anne konnte das Gesicht des Statthalters jetzt sehr gut sehen . Er saß kaum einen Meter von ihr entfernt in einem Sessel. Er sah alt aus, so alt, dass Anne sich fragte, weshalb er überhaupt noch das Amt des Statthalters innehatte. Sein Gesicht wirkte angespannt und erschöpft.
»Das Leben eines jungen Mannes, das es zu retten gilt. Vielleicht auch die Leben von vielen Männern, Frauen und Kindern hier in der Stadt.«
»Ich verstehe nicht …«
»Das könnt Ihr auch nicht, Cosimo de Medici, Kaufmann aus Florenz.« Der Statthalter lächelte. Aber es war ein freudloses Lächeln, das seine Augen nicht erreichte und ihn nur noch müder ausschauen ließ. Anne bekam Mitleid mit ihm. »Ihr seht, ich habe Erkundigungen über Euch eingezogen, bevor ich hierher kam. Ich weiß, dass Ihr hier in Jerusalem das Kontor Eurer Familie verwaltet und dass Eure Familie bereits seit langem nicht mehr mit Gütern handelt, sondern anderen Kaufleuten Geld für deren Geschäfte borgt. Ich weiß, dass Ihr erst seit wenigen Monaten in Jerusalem seid und dass Euer Sohn Euch begleitet. Dennoch habt Ihr Euch bereits einen guten Ruf unter den Kaufleuten der Stadt erworben. Ihr seid ein ehrlicher Geschäftsmann, sagen sie. In Eurem Haus gehen Christen, Juden und Moslems gleichermaßen ein und aus. Ihr seid hilfsbereit und freundlich, ohne dass Ihr jemandem Eure Freundschaft aufdrängen würdet. Und alle rühmen Eure Bildung , Eure Höflichkeit und Euren exzellenten Geschmack.«
Cosimo hob eine Augenbraue. »Hat man Euch auch meine Lieblingsspeise verraten, Özdemir?«
»Verzeiht. Ich weiß, ich muss in Euren Augen den Eindruck eines klatschsüchtigen Waschweibs machen, aber mir blieb keine Wahl. Ich musste sichergehen, dass ich Euch trauen kann. Rashid sagte mir zwar, dass Ihr …«
»Rashid?«, fragte Cosimo überrascht. »Ihr meint Rashid, den Janitscharen? Was habt Ihr denn mit ihm zu schaffen? Ist er einer der Soldaten in Eurem Palast?«
»Nein. Er hat mir und meiner Familie zwar vor einiger Zeit einen großen Dienst erwiesen, aber das ist jetzt … Nun ja, um genau zu sein, ist er zur Zeit Gefangener in meinem Verlies.«
Anne blieb bei den Worten des Statthalters fast das Herz stehen. Sie wollte rufen, sie wollte aus der Kammer stürzen, diesen Özdemir am Kragen packen und ihn so lange schütteln, bis er ihr alles erzählt hatte, was er über Rashid wusste. Doch Anselmo presste ihr die Hand auf den Mund und legte warnend den Finger auf die Lippen.
»Aber das ist eine lange Geschichte, mit der ich Euch nicht …«
»Oh, ich habe Zeit«, unterbrach Cosimo den Statthalter. »Viel Zeit. Die Nacht ist noch lang. Erzählt mir Eure Geschichte .«
Seine Stimme klang ruhig und freundlich. Sein Gesicht war unbeweglich, und doch hatte es eine Ausdruckskraft, der man sich, wie Anne aus eigener Erfahrung wusste, nicht entziehen konnte. In Augenblicken wie diesen fragte man sich unwillkürlich , wen man da vor sich hatte – einen Menschen oder einen Dämon.
Auch der Statthalter begann unter Cosimos Blick unruhig auf dem Sessel herumzurutschen und die jüdische Kopfbedeckung und den falschen Bart in seinen Händen zu zerknautschen .
»Rashid kam vor drei Tagen zu mir und bat um eine Audienz . Es ging um nichts Geringeres als Verrat.« Der Statthalter fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen.
»Darf ich Euch einen Schluck Wasser anbieten?«, fragte Cosimo.
»Danke, gern.«
Cosimo nahm eines der Gläser, aus denen sie gewöhnlich Wein tranken, und goss Wasser aus einem Krug hinein, während Anne in der engen, stickigen Kammer fast verrückt wurde. Wie konnte Cosimo nur so ruhig bleiben? Warum quetschte er den Statthalter nicht aus, damit er so schnell wie möglich alles erzählte? Sie wäre bestimmt hinausgestürmt, wenn Anselmo
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