Die Wächter von Jerusalem
ins Bad zu gehen oder einfach auf der Mauer zu sitzen, zu reden oder zu schweigen und dabei der untergehenden Sonne zuzusehen. Yussuf seufzte. Er hätte es niemals für möglich gehalten, wie sehr er Rashid vermissen würde. In den wenigen Tagen, seit Rashid fort war, hatte Yussuf bereits Höllenqualen durchlitten , und unzählig viele Tage ohne seinen Freund an der Seite lagen noch vor ihm.
Sie wussten mittlerweile alle, dass Rashid ein Verräter war und im Verlies des Statthalters auf seine Verurteilung und Hinrichtung wartete. Der Meister der Suppenschüssel hatte es ihnen während eines Sonderappells erzählt. Viele der Kameraden spuckten jetzt auf den Boden, wenn sie über Rashid sprachen . Auch Hassan und Jamal. Und trotzdem vermisste er ihn. Selbst wenn Rashid ein Schuft war, ein Schurke, ein Verräter, der seinen besten Freund hatte verraten wollen und außerdem einer der Anhänger dieses Predigers war, vermisste er ihn. Er fehlte ihm morgens, wenn er aufstand und das leere Bett neben seinem sah. Er fehlte ihm im Waschraum und bei den Mahlzeiten , bei den Gebeten, bei den Waffen- und Reitübungen und während des Dienstes. Am meisten jedoch fehlte er ihm in den freien Stunden. Von ganzem Herzen wünschte er sich, dass er die Zeit hätte zurückdrehen können. Hätte er doch nie mit Ibrahim und Omar über Rashid gesprochen.
Im Gehen schnallte Yussuf sich seinen Säbel ab und nahm die hohe Mütze vom Kopf. Was sollte er anfangen? Wie sollte er die Stunden bis zum Abendgebet herumbringen? Die Christen und Juden konnten sich in solchen Stunden wenigstens dem Rausch des Weines hingeben, auch wenn es nur ein flüchtiger , trügerischer Trost war. Aber was sollte er tun? Sein Kopf war leer, und er fühlte sich hohl wie eine Trommel.
Eine plötzliche Windböe riss ihm die Mütze aus der Hand und trieb sie quer über den Kasernenhof. Wie ein Hund hinter einem fortgeworfenen Knochen lief er hinter der Mütze her. Er wusste, dass er einen Anblick bot, der so manchem Kameraden vor Lachen die Tränen in die Augen treiben mochte. Wahrscheinlich standen sie oben auf den Wachttürmen, blickten auf ihn herab und amüsierten sich über sein vergebliches Bemühen, die Mütze wieder einzufangen. Vielleicht sollte er um seine Entlassung bitten und in Zukunft auf dem Markt zur Erheiterung aller seine Possen treiben. Aber was sollte es, er hatte das Geheimnis seines besten Freundes preisgegeben. Ein Geheimnis, von dem er noch nicht einmal wusste, ob es auch existierte. Vielleicht war alles nur seiner eigenen schmutzigen Fantasie entsprungen. Und ganz gleich, ob seine Vermutungen nun der Wahrheit entsprachen oder nicht, er hatte sich damit selbst den Todesstoß versetzt. Was spielte es da noch für eine Rolle, wenn er hier vor den Augen aller einen Narren aus sich machte.
Der Wind trieb die Mütze vor ihm her, als wollten die Mächte des Himmels mit ihm spielen. Sie rollte immer dann weiter, wenn er sie gerade erreicht hatte und seine Hand nach ihr ausstreckte. Sie rollte vor und zurück, nach rechts und links, bis zu dem Gebäude, in dem die Offiziere ihre Quartiere hatten. Dort blieb sie schließlich liegen und wartete regungslos , wie es sich für eine Mütze gehörte, bis er sich gebückt hatte und sie aufhob. Yussuf wollte sich gerade wieder aufrichten , als er aus dem Inneren des Hauses Stimmen vernahm. Das Fenster über ihm stand offen, und er konnte jedes Wort genau hören.
»Es ist wahr, ich habe ihn doch mit eigenen Augen gesehen «, sagte Omar gerade. »Er ist tot.«
Yussuf hatte eigentlich nicht vorgehabt zu lauschen. Er wusste selbst nicht, weshalb er sich nicht wieder davonstahl, sondern unter dem Fenster liegen blieb.
»Was hast du gesehen, Omar? Beschreib es mir.«
Omar stieß die Luft hörbar aus. »Ich sagte dir doch schon, dass ich seine Zelle gesehen habe. Die Decke, die Wände, alles war pechschwarz, und es stank geradezu abscheulich nach Rauch und verbranntem Fleisch. Er lag in einer Ecke – oder besser gesagt, das, was von ihm noch übrig war.«
»Ja, ja«, meinte Ibrahim ungeduldig, »das hast du mir bereits alles ganz genau erzählt. Aber warum hat niemand das Feuer bemerkt? Den Rauch, die Hitze, seine Schreie …«
»Nun, das war schwierig. Seine Zelle hatte kein Fenster, nicht einmal einen Lüftungsschlitz in der Außenmauer, sodass der Qualm nicht nach außen dringen konnte. Die anderen Zellen in dem Gang sind leer, und der Kerker wird während der Nacht nur von zwei Wärtern bewacht, die beide
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