Die Wächter von Jerusalem
die ganze Zeit über in der Wachstube gesessen haben. Am späten Abend war Özdemir noch bei ihm, um ihn erneut zu verhören. Irgendwann kurz danach muss er es getan haben.«
»Aber ich verstehe einfach nicht, weshalb er es getan haben sollte. Warum hat er sich umgebracht? Und weshalb auf diese Art?«
»Was weiß ich. Özdemir glaubt, dass Rashid sich dem weiteren Verhör entziehen wollte.« Omar begann zu lachen. »Er war ganz aufgeregt. Er glaubt allen Ernstes, Rashid hatte Angst, unter der Folter zusammenzubrechen und das Versteck des Predigers zu verraten. Er ist ja so dumm!«
»Schön für uns, dass er dumm ist. Aber weshalb soll Rashid es wirklich getan haben? Du und ich wissen am besten, dass dies kaum der wahre Grund gewesen sein kann.«
»Vielleicht war es einer unserer Männer, der ihn für seinen angeblichen Verrat bestrafen wollte? Du weißt doch, wie aufgebracht sie alle waren, nachdem du es ihnen erzählt hast. Oder er hatte einen anderen Grund. Eine unglückliche Liebe, Spielschulden, die er nicht zurückzahlen konnte, Furcht vor dem Henker … Ja, ich weiß, das ist weit hergeholt. Aus Furcht vor dem Henker wird keiner so dämlich sein, sich bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Oder er war einfach verrückt. Aber mal im Ernst, Ibrahim. Was machst du dir denn jetzt noch Sorgen darüber? Rashid kann Özdemir nichts mehr erzählen. Der Bursche ist mausetot!«
»Ist er das wirklich, Omar? Das ist es, worüber ich mir Gedanken mache. Zeige mir einen Haufen Knochen, deute mit dem Finger darauf und sage ›Özdemir‹, und ich könnte dir nicht das Gegenteil beweisen, wenn ich nicht den lebendigen Özdemir neben mir stehen sehe. Woher sollen wir wissen, dass die verbrannte Leiche, die du im Verlies zu Gesicht bekommen hast, wirklich Rashid ist? Sein Name war wohl kaum in die Knochen eingeritzt, oder?«
»Nein, das nicht, aber … Warte mal! Hier ist das Bündel mit Rashids Habseligkeiten, die das Feuer überstanden haben .« Yussuf hörte etwas klimpern. »Siehst du? Ein paar Münzen. Der verkohlte Rest einer Schachfigur ohne Kopf. Ein Stück von der Mütze. Und Feuersteine.« Yussuf hörte, wie etwas Schweres auf Holz gelegt wurde. »Özdemir macht sich wegen der Feuersteine größte Vorwürfe. Er sagt, sie seien ihm bei Rashids Durchsuchung zwar aufgefallen, aber er hielt sie für harmlose Kiesel, ähnlich denen, mit denen die Wachen oft Schach oder andere Spiele spielen, um sich die Zeit zu verkürzen. Deshalb hat er sie ihm gelassen.«
»Der König. Der Kopf ist ihm abgefallen, als wir die große Inspektion durchgeführt haben. Erinnerst du dich?« Ibrahim seufzte. »Ja, du scheinst Recht zu haben. Es sieht ganz danach aus, als wäre Rashid tot. Und trotzdem, mir wäre wohler, wenn du sein Gesicht gesehen hättest. Nun komm, Omar, lass uns ins Bad gehen.«
»Ja, diese glückliche Wendung sollte gefeiert werden. Wir sind unsere Sorgen los, ohne dass wir auch nur einen Finger rühren mussten. Das kommt nicht alle …«
Die Stimmen entfernten sich, und Yussuf hörte, wie eine Tür ins Schloss fiel. Er rührte sich nicht von der Stelle. Sein Herz schlug laut und hart gegen seinen Brustkorb. Er konnte nicht begreifen, was er da eben gehört hatte. Er war wie gelähmt. Und erst als seine Beine schon zu kribbeln begannen, erhob er sich langsam und mühevoll aus der Hocke. Yussuf wankte zu seinem Schlafsaal und warf sich auf das Bett. Er starrte zur Decke und dachte an das Gespräch zwischen Ibrahim und Omar, daran, was sie den Kameraden über Rashid erzählt hatten, an den letzten Abend, an dem er Rashid gesehen hatte, und an seine eigenen verhängnisvollen Schlussfolgerungen.
Yussuf war nicht sehr schnell im Denken. Der Schlafsaal füllte sich, die Kameraden kamen und legten sich ins Bett, die Lampen wurden gelöscht, Stille kehrte ein, und er lag immer noch da und starrte zur Decke empor. Die zweite Wache hatte gerade begonnen, als ihm schließlich alles klar geworden war. Er hatte sich gründlich geirrt und einen Fehler begangen , der sich nun nicht wieder gutmachen ließ. Ibrahim und Omar hatten ihn ausgenutzt, um Rashid aus dem Weg zu räumen und dabei von ihren eigenen Machenschaften abzulenken . Deswegen war Rashid jetzt tot. Sein bester Freund war in einem dreckigen Verlies jämmerlich verbrannt. Und die beiden wahren Schurken liefen immer noch frei herum und verbreiteten infame Lügen über ihn. Die Kameraden verfluchten seinen Namen. Yussuf liefen die Tränen über die Wangen. Rashid! Er war
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