Die Waechter von Marstrand
Porto-Franco-Abkommen wird ihnen trotzdem ein Begriff sein.«
Agnes nickte.
»Vor allem der neunte Paragraph hat jede Menge Gesocks hier angespült.«
Agnes erinnerte sich an den neunten Paragraphen, der besagte, dass allen Verbrechern, die weder Leben noch Ehre verletzt haben, Amnestie gewährt wurde. Wenn man den Kai von Marstrand erreicht und sich angemeldet hatte, spielte es keine Rolle mehr, ob man auf der anderen Seite des Sunds Geld gestohlen hatte. Solange man sich in Marstrand aufhielt, konnte einen niemand belangen, denn der lange Arm des Gesetzes reichte nicht bis zu der kleinen Insel. Auf der sie sich selbst aufhielt, dachte sie dann.
»Aber das betrifft doch nicht nur Verbrecher, oder?«
»Ich nehme an, das kommt darauf an, wie man es sieht. Ein Knecht ist vor einer drohenden Eheschließung geflohen, und ein junges Paar möchte gegen den Willen der Eltern heiraten. Wir haben einen Grafen aus Stockholm, dessen finanzielle Verhältnisse ›vollkommen zerrüttet‹ sind. Trotzdem ließ er nicht zu, dass man in die entsprechende Spalte ›verschuldet‹ eintrug. Ein Gerberlehrling ist vor der allzu harten Behandlung seines Meisters geflohen. Sie werden sicher verstehen, dass wir ungern Menschen Kredit geben, die wir noch nicht lange kennen.«
»Das verstehe ich.« Agnes nahm sich vor, immer die Erlaubnis von Mauritz einzuholen, bevor sie etwas ins Kreditbuch eintrug. »Ist Oskar Ahlgren auch vor seinen Schulden geflohen?« Agnes dachte an den Mann, der Mauritz verärgert hatte.
»Nein, nein. Er wohnt auf Klöverö, schon immer, genau wie seine Eltern. Klöverö und Koö fallen nicht unterdas Porto-Franco-Abkommen, nur Marstrandsö. Sogar Kühe brauchen einen Pass, wenn sie über den Sund transportiert werden. Einen Kuhpass!«, lachte er. Agnes war sich nicht sicher, ob er es ernst meinte oder scherzte.
»Sollen wir die Kassenabrechung machen?« Agnes legte die Zettel zusammen, auf denen sie sich notierte hatte, was die Kunden eingekauft hatten.
»Das kann ich allein machen.« Mauritz nahm die Zettel an sich.
»Ich habe genau aufgeschrieben, wer was gekauft hat.«
»Wunderbar«, sagte Mauritz und schien eher das Gegenteil zu denken. Agnes wollte so gern beweisen, dass sie die Richtige für diese Stelle war, eine schnelle Auffassungsgabe hatte und keine Mühen scheute. Gegenüber Kaufmann Widell war das kein Problem, aber Mauritz schien sie eher als Konkurrenz zu betrachten. In einem Wettkampf, bei dem am Ende Kaufmann Widell entscheiden musste, wer besser war. Agnes oder sein Sohn.
»Soll ich noch irgendetwas tun?«, fragte Agnes, die nun spürte, wie müde sie war. Ständig daran zu denken, in einer tiefen Stimmlage zu sprechen und sich so maskulin wie irgend möglich zu bewegen, erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit. Nicht einfach sie selbst zu sein, sondern ihr eigenes Verhalten permanent zu beobachten.
»Nein, richten Sie sich ruhig in Ihrem Quartier ein. Quer über den Hof und gleich links die erste Treppe nach oben. Neben dem Meijerska Keller.«
»Danke.« Sie überlegte, ob sie noch etwas hätte sagen sollen, aber ihr fiel nichts ein.
Agnes ging durch die Hintertür in den Innenhof. Die Abendluft war kühl, und es wurde dunkel. Bis zum ersten Frost war es nicht mehr weit.
Dreißig Minuten später stellte sie ihr Gepäck ab und sah sich in der Dachkammer um, die Kaufmann Widell fürsie hatte vorbereiten lassen. Sie hatte ihre Sachen geholt, die Rechnung beglichen und der Wirtin, die sie in den vergangenen Tagen beherbergt hatte, gesagt, falls Kapitän Wikström nach ihr frage, solle sie ihm ausrichten, Agne Sundberg habe eine Stelle bei Kaufmann Widell gefunden. Der Name schien der Frau Respekt einzuflößen.
Die neue Unterkunft erinnerte an das Zimmer, in dem sie die vergangenen beiden Nächte verbracht hatte, war aber in einem sehr viel besseren Zustand. Hier waren die Dielen sauber und dufteten sogar leicht nach Seife. Der Raum hatte eine Dachschräge und ein Fenster zum Innenhof, der zur Hälfte gepflastert war. Zwischen den vielen Nebengebäuden und Vorratsspeichern verliefen Wege aus Schieferplatten. Die andere Hälfte bestand aus einem Küchengarten, einem Schweinegehege, zwei großen Bäumen und dahinter dem luxuriösen Wohnhaus von Familie Widell. Wer dort einen Besuch machen wollte, musste erst an der schützenden Reihe von Dienstwohnungen und Nebengebäuden vorbei. Von der Gasse aus konnte man nicht einmal sehen, dass sich im Innenhof noch ein Haus befand.
Immerhin hatte sie
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