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Die Wälder am Fluss - Lansdale, J: Wälder am Fluss - The Bottoms

Die Wälder am Fluss - Lansdale, J: Wälder am Fluss - The Bottoms

Titel: Die Wälder am Fluss - Lansdale, J: Wälder am Fluss - The Bottoms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe R. Lansdale
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Haar war kurz geschnitten, und er hatte einen Schnurrbart, der so dünn war wie die Kante einer Rasierklinge. Man musste sehr genau hinsehen, um ihn überhaupt zu bemerken.
    »Ich sehe, meine Frau haben Sie schon kennen gelernt«, sagte Dr. Tinn.
    »Also, vorgestellt worden sind wir uns noch nicht«, sagte Daddy.
    »Das hier ist Mrs. Tinn«, sagte Dr. Tinn.
    Mrs. Tinn lächelte und ging hinaus.
    Daddy und Mama sprachen sich mit Vornamen an, aber zu der Zeit war es nicht unüblich, dass Eheleute sich untereinander »Mister« und »Missis« nannten, jedenfalls in der Öffentlichkeit; aber weil ich das nicht gewohnt war, kam es mir merkwürdig vor.
    »Haben Sie sich die Leiche angesehen?«, fragte Daddy.
    »Nein, ich habe auf Sie gewartet. Ich schlage vor, wir gehen rüber ins Kühlhaus und sehen sie uns an. Ich hole schnell meine Sachen, dann können wir los. Und Sie müssen mir noch erzählen, wo die Leiche gefunden wurde – ich brauche ein paar Hintergrundinformationen.«
    »In Ordnung«, sagte Daddy.
    Dr. Tinn schwieg einen Moment. »Und der Junge?«
    »Der wird sich eine Weile mit sich selbst beschäftigen müssen«, sagte Daddy.
    Mein Herz sank.
    »Also dann«, sagte Dr. Tinn und nahm sein schwarzes Jackett von der Stuhllehne. »Lassen Sie uns gehen.«

6.
    Das Kühlhaus sah aus wie eine heruntergekommene Scheune. Der Anstrich, der wohl einmal weiß gewesen war, war jetzt grau und blätterte an vielen Stellen ab. Die kleine vordere Veranda war das einzige, was neu an dem Gebäude war.
    Ich wusste, dass das Innere des Kühlhauses voll Sägemehl war. Neben den übereinander geschichteten Eisblöcken gab es einen Tisch, auf dem man mit einer Säge Scheiben des Eises von den Blöcken abtrennte, eine Waage, um das Eis zu wiegen, und eine Rutsche, auf der man es in Lastwagen oder Pritschenwagen beförderte. Ich wusste, dass das Eis so kalt ist, dass es einem die Hand verbrennt, wenn man sie darauf legt, so kalt, dass das Fleisch daran hängenbleibt. Und die Leiche war im Kühlhaus. Die Leiche, die ich gefunden hatte.
    »Ich will verdammt sein«, sagte Daddy, als wir zum Kühlhaus kamen.
    Draußen auf der Veranda saß – in einem staubigen weißen Anzug, mit Matschspritzern auf Schuhen und Hosenbeinen und sich mit einem Strohhut Luft zufächelnd – Dr. Stephenson.
    Neben ihm stand eine Flasche mit einer dunklen Flüssigkeit. Als er Daddy sah, nahm er einen großen Schluck daraus und stellte sie dann wieder neben sich. Doktor Stephenson öffnete seinen Mund nie sehr weit, als fürchte er, Nägel und Reißzwecken könnten herausfallen. Seine Augen hatten etwas sehr Beunruhigendes, es schien immer, als suchten sie nach einer passenden Stelle für einen Messerstich.
    »Was macht der hier?«, fragte Daddy Dr. Tinn.
    »Keine Ahnung, Sir«, sagte Dr. Tinn.
    »Sie müssen mich nicht Sir nennen«, sagte Daddy. »Ich nenne Sie ja auch nicht so.«
    »Ja, Sir … gut, Constable.«
    In diesem Moment kam Dr. Taylor auf das Kühlhaus zu. Er hatte eine Limonade und irgendwelche Süßigkeiten aus Pappys Laden dabei. Seine Kleidung wirkte elegant, besser als man es bei uns zu sehen gewohnt ist, er trug gut geschnittene Hosen, deren Aufschläge auf wundersame Weise vom Matsch verschont geblieben waren – bei den Schuhen war ihm das allerdings nicht gelungen. Er hatte ein strahlend weißes Hemd an, das so weich aussah, als sei es aus Engelsflügeln gemacht. Dazu trug er einen dünnen schwarzen Schlips, der glänzte wie der nasse, schwarze Rücken einer Wasserschlange, sein weicher schwarzer Filzhut saß etwas schräg auf seinem Kopf, sodass er aussah, als ginge er zu einem Tanzvergnügen und nicht zur Autopsie eines verstümmelten Körpers. Ich fragte mich, ob er auch die Kette mit seiner Münze trug.
    »Das hier ist Dr. Taylor«, sagte Daddy zu Dr. Tinn. »Er ist so etwas wie ein Praktikant oder Assistenzarzt. Er arbeitet für Dr. Stephanson, weil der wahrscheinlich bald aufhört, und jetzt will Dr. Taylor mit den Leuten bekannt werden, weil er die Praxis übernehmen will. Er hat etwas von ’nem Stutzer, aber sonst ist er meiner Meinung nach ganz in Ordnung.«
    »Ich bezweifle, dass er mit meinen Leuten bekannt werden will«, sagte Dr. Tinn.
    »Da haben Sie wahrscheinlich recht«, sagte Daddy. »Kommen Sie, bringen wir’s hinter uns.«
    Daddy drehte sich zu mir um und tätschelte mir den Kopf. »Bis später, Harry«, sagte er.
    Niedergeschlagen ging ich die Straße entlang, drehte mich immer wieder um und sah, wie Daddy

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