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Die Wälder am Fluss - Lansdale, J: Wälder am Fluss - The Bottoms

Die Wälder am Fluss - Lansdale, J: Wälder am Fluss - The Bottoms

Titel: Die Wälder am Fluss - Lansdale, J: Wälder am Fluss - The Bottoms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe R. Lansdale
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bewohnt, er war lebendig gewesen; er hatte gegessen, gelacht und Pläne geschmiedet. Jetzt war er nur noch die mitleiderregende Schale verwüsteten Fleisches, ohne Seele. Ich weiß nicht, ob ich wirklich den Geruch der Verwesung roch, der mit der Kälte aus dem Innern des Kühlhauses zu uns hochstieg, oder ob ich mir das nur einbildete.
    Noch etwas veränderte sich in diesem Moment für mich. Mir wurde klar, dass Menschen wirklich sterben konnten. Daddy und Mama konnten sterben. Ich konnte sterben. Eines Tages würden wir alle sterben. In mir tat sich eine Leere auf, durchwanderte mich, fand einen Platz, wo sie sich hinlegen konnte und wo sie, wenn auch nicht getröstet, doch immerhin still sein konnte.
    Der Kopf der Leiche war nach hinten gebogen und stellenweise von Eisklumpen überdeckt. Der Mund, in dem einige Zähne fehlten, stand offen. Viele der verbleibenden Zähne waren gesplittert oder zerbrochen, und ich wusste sofort, dass jemand sie eingeschlagen haben musste. Die aufgeschnittenen Brüste der Frau hingen zu beiden Seiten herunter, das Blut war grau geworden und gefroren.
    Es war das erste Mal, dass ich die Scham einer Frau sah; aber da gab es eigentlich gar nichts zu sehen. Ein Dreieck aus Dunkelheit. Die Knie der Frau waren etwas verdreht, ihre eine Hüfte stand hoch, die andere lag auf dem Eis. Ihre Finger schienen sich ins Eis zu krallen. Das Gesicht war kaum mehr als solches zu erkennen. Jemand hatte etwas damit gemacht. Ihr Körper hatte Risse vom Stacheldraht. Überall waren Wunden.
    Dr. Stephenson nuckelte an seinem Flachmann, wankte zu der Leiche und sah herunter. »Na, da ist ja unser totes Niggerchen«, sagte er.
    Die farbigen Männer, die die Leiche hereingebracht hatten, senkten den Blick. Dr. Stephenson stieß einen von ihnen mit dem Ellbogen in die Seite und fragte: »Nicht wahr, Junge?«
    Der Mann hob den Kopf ein wenig und sagte, ohne Dr. Stephenson anzusehen: »Ja, Sir.«
    Es beschämte mich, dass farbigen Männern nichts anderes übrig blieb, als sich so zu verhalten. Dieser hier war groß und stark und hätte Dr. Stephenson ohne weiteres den Kopf abreißen können; aber wenn er das täte, würde er noch vor Einbruch der Dunkelheit an einem Ast baumeln, vielleicht sogar seine ganze Familie und jeder andere Farbige, der zufällig in der Nähe war, wenn der Klan angeritten kam.
    Stephenson wusste das. Weiße wussten das. Es gab ihnen einiges an Spielraum.
    Aus den Augenwinkeln sah ich Abraham an. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert; wo eben noch kindliche Aufregung war, war jetzt etwas, das ich nicht identifizieren konnte.
    Daddy ging zu der Wanne, um sich die Leiche anzusehen, und sagte zu Dr. Stephenson: »Ich dachte, Sie wollten mit der Leiche nichts zu tun haben.«
    »Nicht in der Stadt. Kein Mensch im Umkreis von hundert Meilen würde noch was mit mir zu tun haben wollen, wenn man mir eine Farbige ins Haus gebracht hätte. Eine anständige weiße Frau würde sich an so einem Ort nicht behandeln lassen. Nichts für ungut, Jungs – aber Weiße und Farbige müssen strikt getrennt sein. Steht schon in der Bibel. Verdammt, ihr Leute könnt froh sein, dass ihr nicht unsere Sorgen habt! Ihr seid gut dran, ja, das seid ihr … Taylor hier sagte mir, dass ich mal einen Blick drauf werfen sollte. Dass wir hier rauskommen sollten und euch Jungs unter die Arme greifen.«
    Dr. Taylor lächelte scheu; die Feuchtigkeit auf seinen Zähnen glitzerte im Licht der Lampe.
    Dr. Tinn war noch nicht näher an die Wanne herangetreten. Er stand hinter Daddy und Dr. Stephenson, mit gesenktem Blick, und wusste nicht recht, wohin mit seinen Händen – wobei ich mir denken konnte, wofür er sie am liebsten eingesetzt hätte.
    Dr. Taylor stand am Ende des Tisches und sah sich die Leiche in aller Ruhe an. Dr. Stephenson musterte die Tote ebenfalls, berührte sie, bewegte sie ein wenig, und sagte: »Schätze, ein Wildschwein hat sie erwischt.«
    »Und hat sie dann mit Stacheldraht an einen Baum gebunden?«, fragte Daddy.
    Dr. Stephenson sah Daddy an, als habe er irgendeinen Idioten vor sich. »Ich meinte natürlich, bevor sie an den Baum gebunden wurde.«
    »Sie meinen, ein Wildschwein hat sie getötet?«
    »Ich meine, es könnte so gewesen sein. Die haben Stoßzähne wie Messer. Ich hab die Biester schon schlimme Sachen anstellen sehen.«
    »Dr. Tinn«, sagte Daddy, »kennen Sie diese Frau eigentlich?«
    Dr. Tinn kam nach vorne und sah die Leiche an. »Ich glaube nicht. Aber ich habe nach

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