Die Wälder von Albion
Vernemeton aufzunehmen, ohne jemanden zu fragen. Da sie es nicht getan hatte, mußte es Schwierigkeiten geben.
»Sie scheint mir noch nicht reif genug, um bei uns zu sein«, erklärte Lhiannon nachdenklich.
»Ich würde gerne für sie sorgen«, erwiderte Eilan, »bis man sie anderen Zieheltern übergeben kann. Hat Hadron denn keine Frau in seiner Verwandtschaft, die bereit wäre, sie aufzunehmen?«
»Das ist das Problem«, sagte der Mann. »Meine Frau war Römerin, und ich weiß kaum etwas über ihre Verwandten.«
»Das Kind ist also mütterlicherseits römischer Abstammung. Kannst du deine Tochter nicht der Familie deiner Frau übergeben?« fragte Lhiannon.
»Meine Frau hat mit ihrer Familie gebrochen, um mich zu heiraten. Vor ihrem Tod mußte ich ihr schwören, daß ich dafür Sorge trage, daß unsere Tochter nicht in die Hände der Römer fällt. Deshalb wollte ich sie in die Obhut der Priesterinnen geben… «
Lhiannon sagte: »Wir sind kein Waisenhaus. Aber für einen Mann aus der Bruderschaft der Raben machen wir vielleicht eine Ausnahme… «
Eilan sah das Mädchen an und mußte an ihre kleine Schwester denken. Sie trauerte noch immer um Senara und hatte sich schon auf Miellyns Kind gefreut.
»Ich würde gerne für sie sorgen, Lhiannon.«
»Deshalb habe ich dich rufen lassen… Du hast noch nicht so viele Aufgaben bei uns«, erwiderte Lhiannon. »Aber das ist mehr, als wir normalerweise von einer jungen Priesterin verlangen.« Sie schwieg und dachte nach. Dann sagte sie: »Also gut, wenn es dein Wunsch ist, werde ich das Mädchen in deine Obhut geben.« Sie sah Hadron an und fragte: »Wie heißt deine Tochter?«
»Meine Frau hat sie Valeria genannt, Herrin.«
Lhiannon runzelte die Stirn. »Das ist ein römischer Name. So können wir sie hier nicht nennen.«
»Meine Frau hatte meinetwegen alle Verbindungen zu den Römern abgebrochen«, sagte Hadron. »Ich wollte ihr deshalb nicht verbieten, dem Kind einen Namen ihrer Wahl zu geben.«
»Trotzdem müssen wir einen neuen Namen für sie finden, wenn sie in Vernemeton bleiben soll«, erklärte Lhiannon. »Eilan, weißt du einen Namen für sie?«
Eilan blickte auf das Kind, das sie mit ängstlichen Blicken ansah. Das Mädchen hatte alles verloren. Sollte es jetzt auch noch mit dem Vater seinen Namen aufgeben?
Eilan lächelte freundlich und sagte dann: »Mit deiner Erlaubnis, Lhiannon, werde ich sie Senara nennen. Sie ist etwa so alt wie meine kleine Schwester war, als sie mit meiner Mutter ums Leben kam.«
»Ich glaube, das ist ein guter Name«, sagte Lhiannon. »So, dann sorge dafür, daß das Kind einen Platz zum Schlafen bekommt und die angemessenen Kleider. Wenn sie alt genug ist, kann sie die Gelübde ablegen, wenn sie das will.«
Als Hadron sich verabschiedet hatte und gegangen war, sagte Lhiannon zu Eilan: »Es tut mir wirklich leid, dir diese Aufgabe geben zu müssen. Aber ich habe auch einmal ein so kleines Mädchen zu mir genommen.« Sie lächelte sanft. »Und Caillean ist für mich noch immer wie eine Tochter.« Ernst fügte sie hinzu: »Nicht alle Kinder sind für das Leben einer Priesterin bestimmt… «
»Wenn du wirklich Zweifel hast, ob es richtig ist, sie hierzubehalten«, sagte Eilan, »dann sollten wir vielleicht jemanden bei den Römern suchen. Trotz allem, was Hadron berichtet hat, kann es doch sein, daß die Familie der Mutter das Kind aufnehmen möchte… « Lhiannon nickte, und Eilan sagte: »Vielleicht sollten wir wenigstens Nachforschungen anstellen… «
Gaius! Vielleicht kann uns Gaius dabei helfen…
»Vielleicht… «, sagte Lhiannon, aber sie schien sich in Gedanken bereits mit etwas anderem zu beschäftigen. »Kümmere dich darum, Eilan… «
Die kleine Hand schob sich vertrauensvoll in ihre, und etwas in Eilan, das sie seit dem Tod der Schwester bekümmerte und auf ihrer Seele gelastet hatte, begann sich zu lösen. Während sie durch den Innenhof gingen, fragte Eilan das Mädchen: »Bist du traurig, wenn wir dich Senara nennen?«
»O nein«, erwiderte das Mädchen, »wenn deine Schwester auch so hieß. Ist sie wirklich tot?«
»Tot oder über das Meer verschleppt worden«, erwiderte Eilan. »Leider weiß ich es nicht genau.«
Sie hatte schon oft daran gedacht, durch einen Blick in die Wasserschale eine Antwort auf diese Frage zu finden, aber sie beherzigte die Mahnung ihrer Lehrerinnen, den Gang zwischen den Welten nicht aus Neugier anzutreten, sondern nur dann, wenn sie es vor der Göttin und ihrem Gewissen
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