Die Wälder von Albion
beschlossen?«
Latis schien ihre Frage zu überhören und murmelte nur: »Sie werden von Jahr zu Jahr jünger… «
»Wer wird jünger, Mutter?« fragte Miellyn neugierig.
»Die Mädchen, die sie zu Lhiannon schicken, um als Priesterinnen dem Orakel zu dienen.«
»Siehst du, ich habe dir ja gesagt, daß du zu ihnen kommen wirst!« rief Miellyn. »Glaubst du mir jetzt?«
»O, ich habe dir geglaubt«, erwiderte Eilan, »obwohl ich dachte, sie wollen eine ältere Frau und eine, die mehr Wissen und Können hat als ich.«
»Caillean würde sagen, sie wollen in Lhiannons Umgebung keine Frauen, die zu klug sind, aus Angst, sie stellen zu viele Fragen.«
Seit Miellyns Fehlgeburt klangen ihre Bemerkungen oft bitter. Man hörte sie auch nur noch selten so unbeschwert lachen wie früher. Eilan hatte beobachtet, daß zwar alle die Schwangerschaft übersahen, trotzdem schien der unförmige Leib wie ein Makel gewesen zu sein. Eilan verstand das nicht, aber auch sie wagte nie, darüber zu sprechen.
Miellyn fuhr erregt fort: »Wenn eine Priesterin anfängt, darüber nachzudenken, was sie tut, dann werden ihre Orakelsprüche vielleicht nicht immer den politischen Vorstellungen der Druiden entsprechen.«
»Miellyn, bist du still!« rief die alte Latis. »Du weißt, du sollst so etwas nicht sagen… nicht einmal denken!«
Aber Miellyn erwiderte: »Ich werde wie Caillean die Wahrheit sagen, und wenn die Priester etwas dagegen haben, werde ich sie fragen, mit welchem Recht sie von mir verlangen zu lügen.« Sie wandte sich an Eilan, aber sie senkte die Stimme, als sie sagte: »Eilan, paß gut auf dich auf! Sie wollen aus dir bestimmt auch nur ein brauchbares Werkzeug machen.«
»Es gibt Wahrheiten, die man niemals laut aussprechen sollte«, sagte Latis kopfschüttelnd.
»Ja«, meinte Miellyn, »das höre ich hier immer wieder. Aber es sind meist die Wahrheiten, die man mit lauter Stimme allen Menschen verkünden sollte.«
»Aus der Sicht der Götter ist das vielleicht sehr richtig«, erwiderte die Alte, »aber du weißt auch, wir befinden uns nicht in Gesellschaft von Göttern, sondern von Menschen.«
»Wenn die Wahrheit in einem Heiligtum der Göttin nicht ausgesprochen werden darf«, erwiderte Miellyn erregt, »wo in der Götter Namen kann man sie dann aussprechen?«
»Das wissen nur die Götter!« sagte Latis. »Ich lebe nun schon so lange bei meinen Kräutern. Und ich möchte dir raten, dasselbe zu tun. Die Pflanzen lügen nie.«
»Eilan hat diese Möglichkeit nicht«, sagte Miellyn. »Sie muß in der nächsten Zeit der Hohenpriesterin dienen.«
»Bleib dir selbst treu, mein Kind«, sagte die alte Latis und legte Eilan freundlich die Hand auf die Schulter. »Wenn dein Herz zu dir spricht, dann hast du einen Freund, der niemals lügt.«
Die alte Latis sollte recht behalten. Beim nächsten Neumond brachte man Eilan zu Lhiannon. Sie wurde als erstes in den zeremoniellen Regeln unterrichtet, die Lhiannons Begleiterinnen beachten mußten, wenn sich die Hohepriesterin in der Öffentlichkeit zeigte. Und das war immer dann, wenn Lhiannon ihr Haus in Vernemeton verließ.
Eilan lernte auch, Lhiannon zu den Zeremonien anzukleiden. Das war schwieriger, als es den Anschein hatte, denn nach dem Beginn eines Rituals durfte selbst die dienende Priesterin sie nur in ganz bestimmten Augenblicken berühren. Eilan teilte mit der Hohenpriesterin auch die langen rituellen Klausuren, mit der sich Lhiannon auf die Riten vorbereitete, und sie half ihr, die körperlichen Zusammenbrüche zu überstehen, die darauf folgten.
Eilan begriff sehr schnell, welch hohen Preis Lhiannon für die große Ehrerbietung zahlte, die ihr alle entgegenbrachten. Das Orakel der Göttin zu sein, IHRE Worte den Menschen zu übermitteln, war eine schwere Aufgabe.
Lhiannon mochte wie jeder andere Mensch hin und wieder eine Nachlässigkeit unterlaufen. Aber wenn die Hohepriesterin die rituellen Gewänder und den heiligen Schmuck des Orakels anlegte, überkam sie eine andere Kraft.
Eilan erkannte, daß Lhiannon für diese Aufgabe nicht wegen ihres starken Willens oder ihrer Weisheit ausgewählt worden war, sondern weil sie auf ihr eigenes Wesen verzichten konnte, wenn es von ihr als Werkzeug der Göttin verlangt wurde. Das war eine Gabe, die Lhiannon mit der uneingeschränkten Hinwendung zu den geistigen Ebenen voll entfaltete und ihr ganzes Leben lang verfeinerte und vervollkommnete.
Wenn die Hohepriesterin mit der üblichen Kleidung ihre menschliche Identität
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