Die Wälder von Albion
ihr Tun bestrafen werde. Tagsüber jedoch siegte die Vernunft, und sie zweifelte nicht daran, daß sie das Ritual überleben werde, denn warum sollte die Göttin sie gerade jetzt strafen? Wenn die Kraft und die Vision bei der Einweihung eine Täuschung gewesen waren, dann hätte sie umsonst auf Gaius verzichtet. Aber wenn Ardanos im Grunde seines Herzens nicht an die Göttin glaubte, dann machte er sich des Verrats schuldig.
Eilan wollte ihre Aufgabe mit ganzer Hingabe erfüllen, aber dazu mußte sie herausfinden, ob die Interpretation der Orakelsprüche des höchsten Druiden verlogene Taktik waren oder ob die Beschwörung der Göttin eine Täuschung der Menschen war.
Während sich Eilan als Vorbereitung auf Beltane der vorgeschriebenen inneren und äußeren Reinigung unterzog, kam ihr die Idee, es sei sehr viel eindrucksvoller, wenn das Trinken aus der goldenen Schale in Gegenwart der Menschen auf dem Festplatz stattfand. Sie nahm sich vor, mit Ardanos darüber zu sprechen, und er erhob erstaunlicherweise keine Einwände. Er schien nur überrascht zu sein, daß sie überhaupt auf diesen Gedanken gekommen war.
Eilan mischte den Trank diesmal selbst und nahm verschiedene Veränderungen vor. Sie behielt die Pflanzen bei, die ihre visionären Fähigkeiten vergrößerten, aber ließ jene weg, die ihren Willen von den Sinnen lösten.
Mit klarem Bewußtsein nahm sie deshalb wahr, wie die Menge bei ihrem Anblick verstummte. Sie spürte die allgemeine Ehrerbietung und die Erwartungen. Aus der Sicht dieser Menschen war der naive Glaube gut zu verstehen. Eilan wußte, sie bewunderten ihre Schönheit. Die ihnen im Kreis der Priesterschaft und der Priesterinnen entrückte Stimme des Orakels war für sie bereits göttlich.
Hatte Lhiannon in ihrer Jugend auf die gleiche Weise die Herzen aller allein durch ihre Erscheinung gewonnen? Hatte Ardanos schon immer nur auf diese Wirkung gesetzt? Boten die Druiden, allen voran ihr Großvater, dem Volk schon immer nichts anderes als ein gut inszeniertes Schauspiel?
Bis jetzt hatte Eilan nicht den Mut aufgebracht, diese Frage Caillean zu stellen. Aber insgeheim glaubte sie immer mehr daran.
Caillean mußte es ebenfalls glauben. Nur so ließ sich ihre heftige Ablehnung des höchsten Druiden erklären. Schließlich war sie von Anfang an nicht von Lhiannons Seite gewichen. Ihr konnte man bestimmt nichts vormachen. Aber auch wenn Caillean jetzt Eilan liebevoll half und sie in jeder Hinsicht rückhaltlos unterstützte, war sie allen Ansätzen, über dieses Thema zu sprechen, kategorisch ausgewichen.
Eilan hob die goldene Schale an die Lippen und trank. Die Wirkung setzte sofort ein, und die Trance erfaßte sie. Sie ließ sich auf den Sitz sinken und schloß die Augen. Ardanos sollte nicht sehen, daß diesmal ihr Bewußtsein nicht völlig aussetzte.
Als der höchste Druide die Anrufung begann, stellte sie fest, daß sich zwischen die rituellen Worte Anweisungen mischten. Sie durchschaute seine Absicht und wußte plötzlich, weshalb er das tat.
Eilan verstand jetzt, weshalb Ardanos eine junge, möglichst unerfahrene Hohepriesterin des Orakels als Lhiannons Nachfolgerin haben wollte, die sich nicht auf ihre geistigen Kräfte verlassen konnte. Ardanos redete immer von dem großen Fortschritt, den Albion durch den Einfluß der Römer machen werde. Er glaubte an die Kultur und Zivilisation der Weltmacht Rom, das heißt, an die Ratio und nicht an die Göttin, die sich den Manipulationen der Menschen genauso entzog wie den beschränkten Erkenntnissen ihres Bewußtseins, mit denen sie sich zu Herren der Welt machten. Ardanos verfolgte unbeirrt sein Ziel, und man konnte ihm vielleicht vieles vorwerfen, aber inkonsequent war er nicht.
Bei der letzten Begegnung mit Gaius hatte sie genug begriffen, um ihrem Großvater insgeheim darin zuzustimmen, daß er - zumindest für diese Zeit - vielleicht doch die richtigen Grundsätze vertrat, selbst wenn er damit auf der Seite der Sieger stand, die alle Macht in Albion an sich gerissen und den Frieden versprochen hatten. Das Orakel der Göttin war ein machtvolles Instrument, um die Menschen zu lenken. Wenn der höchste Druide klug genug war, eine Politik zu betreiben, die ebenfalls den Frieden für das Land zum Ziel hatte, dann war sein Tun vielleicht sogar zu rechtfertigen - zumindest würde er das vor seinem Gewissen so verantworten.
Eilan war jedoch nicht länger das unschuldige und nichtsahnende Werkzeug dieser Täuschung. Sie würde sich ernsthaft
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