Die Waffen nieder!
›Sohn Rudolf‹ geworden, meines ganzen Strebens, Hoffens, Liebens geheiligter Mittelpunkt. Um ihm einstens eine gute Lehrerin sein – oder doch, um seinen Studien folgen und ihm eine Geisteskameradin werden zu können, wollte ich selber so viel Wissen als möglich mir aneignen; zudem war Lesen die einzige Zerstreuung, die ich mir erlaubte – so vertiefte ich mich denn von neuem in die Schätze unserer Schloßbibliothek. Namentlich drängte es mich, mein einstiges Lieblingsstudium – die Geschichte – wieder aufzunehmen. In der letzten Zeit, als der Krieg von meinen Zeitgenossen und von mir selber so viele Opfer gefordert hatte, war mein früherer Enthusiasmus stark abgekühlt worden, und ich wünschte denselben durch entsprechende Lektüre wieder anzufachen. Und in der Tat, es gewährte mir manchmal einen gewissen Trost, wenn ich ein paar Seiten Schlachtenberichte mit den daran geknüpften Heldenverherrlichungen gelesen, zu denken, daß der Tod meines armen Mannes und mein eigenes Witwenleid als Parzellen in einem ähnlichen großen, geschichtlichen Vorgang enthalten waren, ich sage »manchmal« – nicht immer. So ganz und gar konnte ich mich doch nicht mehr in jene Stimmungen meiner Mädchenzeit zurückversetzen, wo ich es der Jungfrau von Orleans hätte gleich tun mögen. Vieles, vieles in den gelesenen überschwenglichen Ruhmestiraden, welche die Schlachtenberichte begleiteten, klang mir falsch und hohl, wenn ich mir zugleich die Schrecken der Schlacht vergegenwärtigte – so falsch und hohl, wie eine als Preis für eine echte Perle erhaltene Blechmünze. Die Perle Leben – ist die wohl ehrlich bezahlt mit den Blechphrasen der geschichtlichen Nachrufe? ...
Bald hatte ich den Vorrat der in unserer Bücherei vorhandenen historischen Werke erschöpft. Ich bat unseren Buchhändler, er möge mir ein neues Geschichtswerk zur Ansicht schicken. Er schickte Thomas Buckles History of Civilisation . »Das Werk ist nicht vollendet,« schrieb der Buchhändler, »aber die beifolgenden zwei, als Einleitung dienenden Bände bilden an und für sich ein abgeschlossenes Ganzes und ihr Erscheinen hat sowohl in England, als in der übrigen gebildeten Welt großes Aufsehen erregt; der Verfasser, so sagt man, habe damit den Grundstein zu einer neuen Auffassung der Geschichte gelegt.«
In der Tat ja: ganz neu. Mir war, nachdem ich diese zwei Bände gelesen und wieder gelesen, wie jemand zu Mute, der zeitlebens in einem engen Talkessel gewohnt und zum erstenmal auf eine der umgebenden Bergspitzen hinaufgeführt worden, von wo ein ausgestrecktes Stück Land zu sehen ist, mit Bauten und Gärten bedeckt, von endlosem Meere begrenzt. Ich will nicht behaupten, daß ich – die Zwanzigjährige, welcher die bekannte oberflächliche höhere Töchtererziehung zuteil geworden – das Buch in seiner ganzen Tragweite verstand, oder – um obiges Bild beizubehalten – daß ich die Erhabenheit der Monumentalbauten und die Größe des Ozeans erfaßte, die vor meinen, überraschten Blicken lagen; aber ich war geblendet, war überwältigt; ich sah, daß es jenseits meines engen Heimattales eine weite, weite Welt gab, von der ich bisher niemals Kunde erhalten. Erst, als ich das Buch nach fünfzehn oder zwanzig Jahren wieder las, und nachdem ich andere im selben Geist verfaßte Werke studiert hatte, konnte ich mir vielleicht anmaßen, zu sagen, daß ich es verstehe. Doch eins wurde mir auch schon damals klar: die Geschichte der Menschheit wird nicht – wie dies die alte Auffassung war – durch die Könige und Staatsmänner, durch die Kriege und Traktate bestimmt, welche der Ehrgeiz der einen und die Schlauheit der anderen ins Leben rufen, sondern durch die allmähliche Entwicklung der Intelligenz. Die Hof- und Schlachtenchroniken, welche in den Historienbüchern aneinander gereiht sind, stellen einzelne Erscheinungen der jeweiligen Kulturzustände vor, nicht aber deren bewegende Ursachen. Von der althergebrachten Bewunderung, mit welcher andere Geschichtsschreiber die Lebensläufe gewaltiger Eroberer und Länderverwüster zu erzählen pflegen, konnte ich im Buckle gar nichts finden. Im Gegenteil, er führt den Nachweis, daß das Ansehen des Kriegerstandes im umgekehrten Verhältnis zu der Kulturhöhe eines Volkes steht: – je tiefer in der barbarischen Vergangenheit zurück, desto häufiger die gegenseitige Bekriegung und desto enger die Grenzen des Friedens: Provinz gegen Provinz, Stadt gegen Stadt, Familie gegen Familie. Er betont, daß im
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