Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
vielleicht für eine Verurteilung schon ausreichen, sollte uns doch stutzig machen. Hast du je …«
Sie schlug sich energisch vor die Stirn, als ob der Schmerz ihre Gedanken klarer und ihre Worte überzeugender machen könnte.
»Hast du es je erlebt, daß wir in so kurzer Zeit in irgendeinem Fall über so viele Beweise gestolpert sind? Na? Hast du?«
Hanne schrie jetzt fast. Annmari hob besänftigend die Handflächen.
»Nein, aber …«
»Die Stahlbergs waren eine kaputte Familie«, sagte Hanne plötzlich wieder ruhig. »Ein schöner Firnis, der gerade scheußliche Falten warf. Aber daß Familienmitglieder einander hassen, bedeutet nicht, daß sie sich gegenseitig umbringen. Wir sind es den drei Verdächtigen schuldig, daß wir auch in anderen Bahnen denken. Zumindest probeweise. Und sei es nur, weil das einen besseren Eindruck macht. Wir sind es uns auch selbst schuldig.«
Müde erhob sie sich aus dem Sessel.
»Ich muß gehen«, sagte sie. »Hab jede Menge Post zu sortieren.«
»Jetzt? Es ist doch schon … halb eins!«
»Irgendwann muß ich das ja erledigen. Und außerdem …«
Mit der Klinke in der Hand drehte sie sich ein letztes Mal zu Annmari um.
»Wenn Hermine zu einem Mord fähig ist«, sagte sie langsam, »was ja der Fall sein kann, warum hat sie dann nicht Alfred umgebracht? Warum um alles in der Welt hat sie dann einen solchen Kerl am Leben gelassen?«
Dann zuckte sie mit den Schultern und überließ Annmari sich selbst.
Hanne Wilhelmsen hatte das überquellende Postfach im menschenleeren Vorzimmer geleert. Im Korb für die eingegangene Post in ihrem Büro ragte auch ein Papierturm auf. Seit über einer Woche hatte sie stets nur kurz überflogen, was ihr in die Hände gedrückt worden war. Sie würde Stunden brauchen, um alles durchzusehen. Aber da sie ohnehin nicht schlafen konnte, wollte sie so lange hier sitzen, wie sie es nur über sich brachte. Offenbar war sie hier im Haus nicht mehr wirklich willkommen. Und da war es doch schlichtweg angenehm, nachts zu arbeiten, ohne sich um andere kümmern zu müssen. Ungestört, so, wie es ihr am liebsten war.
Sie war unnormal und anders. Stur und unflexibel. Vielleicht war sie immer schon so gewesen. Kåre hatte vielleicht recht; mit ihr stimmte etwas nicht, von Geburt an, etwas Genetisches vielleicht, ein erblicher Fehler, der es ihr schon als Kind unmöglich gemacht hatte, geliebt zu werden. All die Jahre hindurch hatte sie ihr Anderssein für freie Wahl gehalten. Aber das war vielleicht doch ein Selbstbetrug gewesen. Sie hatte keine Wahl gehabt. Sondern einen Defekt.
Sie biß die Zähne zusammen und öffnete den Verschluß einer halbleeren Colaflasche.
Es war aber auch nicht nur ihre Schuld. Nicht alles war ihre Schuld. Einer Vierjährigen darf man nicht erzählen, daß sie ein auf der Müllhalde entdecktes Findelkind ist, dachte sie, nur, weil sie nicht so früh lesen lernt wie ihre Geschwister. Ihr Vater hatte natürlich einen Witz gemacht. Aber Hanne war ein Kind gewesen und hatte ihm geglaubt.
Sie atmete jetzt ruhiger.
Sie hatte ein Zuhause, sie hatte Nefis. Nefis und sie gehörten zusammen. Und sie hatte Marry. Seit Alexander dazugekommen war, waren sie eine ganze Familie.
Sie fing an, die Hausmitteilungen auf einen Stapel zu legen, die offiziellen Schreiben verschiedener Dienststellen auf einen anderen, und alles, bei dem sie nicht so recht wußte, was sie damit machen sollte, auf einen dritten. Als sie alle sortiert hatte, sank ihr der Mut. Jetzt ragten drei Türme auf ihrem Schreibtisch auf.
»Herrgott«, murmelte sie. »Da könnte ich auch gleich mit einem Sieb Wasser schöpfen.«
Als sie vorsichtig versuchte, zwei Stapel nach hinten zu schieben, um Platz für die Arbeit am dritten zu haben, stürzten alle Türme ein. Unterlagen und Briefumschläge, Zettel und Mitteilungen lagen jetzt wild durcheinander auf dem Boden. Sofort wurden ihre Kopfschmerzen schlimmer.
Ein Brief war bis zur Tür gesegelt. Hanne blieb einen Moment hilflos sitzen und überlegte, ob sie einfach alles liegenlassen sollte. Und nach Hause gehen. Schlafen. Der Putzmann würde alles aufräumen. Und andere konnten sich dann um die verdammte Post kümmern.
Natürlich würden sie das nicht tun.
Bei der Tür anzufangen, war vielleicht gar keine schlechte Idee. Das System des Zufalls ist ebenso gut wie jedes andere, dachte sie resigniert.
Der Briefumschlag, der ganz allein vor der Türschwelle lag, stammte von der Telefongesellschaft Telenor.
Hanne riß ihn
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