Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
einer eifrigen Spannung. Die Kamera schien ihr dabei zu helfen, klarer zu sehen, als erleichtere der begrenzte Ausschnitt im Sucher ihr die Konzentration. Langsam ließ sie den Apparat sinken. Wieder wanderten ihre Blicke über den Tisch, über Stapel von leeren Blättern, über ein Buch über einen Meisterdieb und eine Organisationskarte des Polizeidistrikts Oslo. Sie hob eine Zeitung auf und fand darunter einen Sonderdruck über widerrechtlich verhängte Untersuchungshaft. Unter einem gläsernen Briefbeschwerer fand sie einen Artikel aus der Zeitung Aftenposten. Er stammte von einem bekannten Kriminologen und handelte davon, wie oft die Polizei Ermittlungen gegen bekannte Täter einstellte. Hanne erinnerte sich an den Artikel, er war mehrere Jahre alt. Vorsichtig stellte sie den Briefbeschwerer wieder zurück.
Irgend etwas fehlte.
Sie wußte, daß irgend etwas fehlte.
Auch wenn Knut Sidensvans von seinem Artikel über die Entwicklung der großstädtischen Kriminalität noch nicht viel geschrieben hatte, mußte er doch schon mitten in der Arbeit gewesen sein. Vor weniger als zwei Stunden hatte Hanne Wilhelmsen in aller Herrgottsfrühe dem Fernarchiv einen Besuch abgestattet, wo alle eingestellten und abgeschlossenen Ermittlungen des Polizeidistrikts Oslo verzeichnet waren. Ein vergrätzter Archivar hatte sich aus den Federn zerren lassen, um ihr zu helfen. Sie hatten nur einige Minuten gebraucht, um festzustellen, daß Knut Sidensvans noch nie einen Fuß in dieses Archiv gesetzt hatte. Sein Name tauchte in keinem Protokoll auf. Hannes Enttäuschung war offenbar deutlich zu sehen gewesen. Der gähnende Archivar fuhr sich nachdenklich über die Haare und machte sich dann daran, den Posteingang zu untersuchen.
»Hier«, sagte er endlich. »Daher kenne ich den Namen also. Ich hatte es mir ja schon gedacht, wissen Sie, als ich diesen komischen Namen in der Zeitung gelesen habe. Von dem Burschen hab ich schon mal gehört, dachte ich. Aber ich kam einfach nicht darauf, wo.«
Er reichte ihr einen Brief.
Er stammte vom Polizeidirektorat und war vom 23. Oktober datiert. Er teilte mit, daß Knut Sidensvans im kommenden Jahr Zugang zu allen archivierten Fällen erhalten sollte. Und das Direktorat bat freundlichst um bereitwillige Unterstützung.
»Kopie an uns«, sagte der Mann und zeigte auf die letzte Zeile des Schriftstücks. »Es ist ja an den Chef gerichtet. Und dann an Bergen. Sie sollten bei der Polizei in Bergen anrufen. Vielleicht hat er ja dort angefangen. Oh verdammt! Ich wußte ja, daß ich schon mal von diesem Burschen gehört hatte!«
Dann gähnte er wieder, und Hanne überließ ihn seinem Schicksal. Sie wollte weg vom Grønlandsleiret, aus dem Blickfeld der Kollegen, weg von den Fragen, auf die sie noch keine Antwort wußte. Erst, als sie auf dem Weg zu Sidensvans’ Wohnung am Munch-Museum vorbeikam, blieb sie stehen, um ihren alten Kollegen Severin Heger anzurufen. Er hatte sich um eine Stellung in seiner Heimatstadt beworben, nachdem er sich als Schwuler geoutet und bei der Überwachungspolizei gekündigt hatte. Jetzt war er bei der Polizei in Bergen Abteilungsleiter und brauchte beeindruckenderweise nur neunzehn Minuten, um sie zurückzurufen.
»Er war hier, Hanne. Mehrmals sogar.«
Sein Akzent war jetzt deutlicher zu hören als damals, als er sich in den oberen, geheimen Etagen des Polizeigebäudes versteckt hatte. Eifrig und mit Zäpfchen-R redete er weiter:
»Komischer Kerl, sagen sie hier. Und Hanne … ich sag es ja nicht gern, aber offenbar hat er von allerlei Unterlagen Kopien machen dürfen. Der Kerl hier im Archiv konnte nicht so recht einsehen, warum Sidensvans so viele Notizen machen konnte, wie er wollte, aber nichts kopieren durfte. Also hat er …«
»Severin«, fiel Hanne ihm ins Wort. »Warum zum Henker habt ihr uns nicht mitgeteilt, daß ihr zu Sidensvans Kontakt hattet? Hier stecken wir mitten im größten Mordfall aller Zeiten, und dann latscht da bei euch irgendwer rum, der möglicherweise wichtige Informationen über eins der Opfer hat und meldet sich nicht. Das macht mich doch …«
»Es sind Ferien, Hanne. Es ist Weihnachten, verdammt noch mal!«
»Stell fest, was er kopiert hat, Severin. Tu mir den Gefallen!«
»Das kann dauern.«
»So schnell wie möglich.«
»Du hörst dich verdammt gestreßt an, Hanne.«
»Bis nach dem Wochenende.«
»Aber ich soll doch feststellen …«
»Und so diskret wie möglich. Okay?«
Das Telefon knisterte, als er
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