Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
waren langsamer als gewöhnlich, und als sie genauer horchte, verstummten sie.
»Hallo?«
»Ich bin noch dran«, sagte sie rasch. »Hat er Ihnen überhaupt Genaues darüber erzählt, was er schon entdeckt hatte?«
»Nein, ich glaube nicht.«
Zum ersten Mal wirkte Åshild Meier ungeduldig.
»Tut mir leid«, sagte Hanne und kniff sich in die Nasenwurzel. »Es tut mir wirklich leid, daß ich Sie geweckt habe.«
»Ist schon gut«, sagte Åshild Meiers müde Stimme. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»Nein. Danke. Gute Nacht. Und ich möchte noch einmal um Entschuldigung bitten.«
Als sie auflegte, reichte sogar das Klicken des Hörers auf der Gabel aus, um ihr Angst einzujagen. Sie mußte nach Hause. Ihr Gehirn brauchte eine Ruhepause. Ihre Nerven auch.
Ein einziges Mal hatte sie bisher so empfunden. Damals, als sie jung und beliebt gewesen war und ihre kühle Beherrschung aller Dinge überall Anerkennung gefunden hatte. Wenn sie die Augen schloß, konnte sie sich an das Datum erinnern: 11. Oktober 1992. Ein Sonntag, später Nachmittag. Sie hatte mitten in den Ermittlungen in einem Fall gesteckt, der immer weitere Kreise gezogen hatte, schließlich bis ins Regierungsgebäude hinein. Vor ihrem Büro war sie niedergeschlagen worden, plötzlich, unerwartet. Von dem Schlag hatte sie eine Anfälligkeit für Kopfschmerzen übrigbehalten, die ab und zu zwar nachließen, die sie in Zeiten wie dieser, mit wechselhaften Temperaturen und hoher Luftfeuchtigkeit, jedoch oft deprimierten und ihr den Schlaf raubten.
Trotzdem dachte sie jetzt nicht so sehr an den Überfall selbst.
Es war vielmehr die Angst von damals, die sie überkam, das Entsetzen der ersten Sekunden, nachdem sie im Krankenhaus wieder zu sich gekommen war. Jetzt, in dieser Nacht, kurz nach Weihnachten und über ein Jahrzehnt später, war diese Angst plötzlich zum Greifen nah. Die Angst davor, nicht beschützt zu werden. Die Angst davor, daß keine sicheren Mauern mehr zwischen ihr und denen da draußen aufragten.
Es war die Stille hinter der Tür, die sie bedrohte.
Samstag, 28. Dezember
Es war morgens um zehn vor neun. Wieder stand Hanne in Knut Sidensvans’ Wohnung. Diesmal war sie allein, und sie ließ sich Zeit, um die ganz besondere Stimmung in dem übervollen Wohnzimmer in sich aufzunehmen. Die Türme aus Büchern und Zeitschriften auf dem Boden ergaben die Miniaturausgabe einer Großstadt; Wolkenkratzer des Wissens, getrennt durch Straßenschluchten. Langsam ging sie von der Tür zum Schreibtisch. Ein Schritt nach links, zwei nach rechts, dann geradeaus. Sie betrachtete das oberste Buch auf einem Stapel, der ihr bis an die Hüfte reichte. Es handelte von Schnauzern und war auf deutsch verfaßt.
Diesmal wagte sie, die Schreibtischlampe einzuschalten. Vorsichtig zog sie Silikonhandschuhe an, streifte sie über und drückte auf den Schalter. Das Licht fiel im schrägen Winkel auf die Platte, plötzlich fiel ihr ein Ausweis auf. Er lugte unter einer Zeitung hervor, die am Rand des großen Schreibtisches lag.
Vorsichtig zog sie den Paß hervor, sie berührte das kleine rote Heft dabei kaum. Sie hatte Sidensvans nur einmal gesehen. Mit einem Kopfschuß. Nachdem ein Hund einen Teil seines Ohrs abgebissen und sich an seinem Gehirn gütlich getan hatte. Sie blätterte weiter.
Das Bild zeigte einen ernsten Mann. Er hatte ein rundes Gesicht; die weichen Rundungen der Kinnpartie wirkten kindlich. Die Nase war klein, die Stirn breit, mit hohem Haaransatz und Geheimratsecken. Eine kecke Spitze aus nach hinten gekämmten Haaren wurde von Gel oder Haarwasser genau in der Mitte festgehalten. Sidensvans war weder schön noch häßlich. Er sah ziemlich normal aus, das Klischee eines Beamten. Hanne hielt das Bild ins Lampenlicht.
Es waren die Augen, die ihn zu etwas Besonderem machten.
Das Paßbild war bunt, aber es war so klein, daß Hanne sich in den Lichtkegel beugen mußte, um richtig sehen zu können. Sidensvans’ Augen saßen dicht nebeneinander. Das verstärkte den abweisenden Eindruck, zu dem auch der trotzig nach unten verzogene Mund beitrug.
Vorsichtig legte sie den Paß weg und machte sich an die Arbeit.
Als erstes fotografierte sie die Wohnung. Das ist eigentlich nicht meine Aufgabe, dachte sie, während sie sorgfältig den auffälligen Unterschied zwischen dem Chaos auf dem Boden und der peinlichen Ordnung auf dem riesigen Schreibtisch dokumentierte. Sie machte trotzdem weiter. Energisch und zielsicher; die Angst der Nacht wich
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