Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
auf und ließ ihre Finger über die dichten Zahlenkolonnen wandern, aus denen hervorging, welche Nummern Knut Sidensvans in den letzten Tagen seines Lebens angerufen hatte. Sechs Gespräche am Tag des Mordes, einige davon ziemlich ausdauernd.
Hanne ging zu ihrem Sessel zurück, ohne ihren Blick von dem Ausdruck zu entfernen. Um ihre Füße herum raschelten Briefe und Papier, fast der halbe Fußboden war jetzt damit bedeckt. Langsam setzte sie sich und schaltete ihren Computer ein. Der Ausdruck, den sie bei der Telefongesellschaft angefordert hatte, listete alle Nummern auf, die Sidensvans angerufen hatte oder von denen aus er angerufen worden war. Sie hatte vergessen, auch die Namen anzufordern. Die gerichtliche Erlaubnis hatte sie. Aber es würde viele Tage dauern, bis eine neue Aufstellung vorläge.
Der Bildschirm flackerte bläulich auf und kam endlich zur Ruhe. Das Suchprogramm brachte sofort die gewünschten Treffer.
An seinem Todestag hatte Knut Sidensvans zweimal in der Universitätsbibliothek angerufen. Beide Gespräche hatten weniger als zwei Minuten gedauert. Am frühen Morgen hatte er ein längeres Telefonat mit dem meteorologischen Institut geführt. Um 13.32 hatte er sich vom Chinesen etwas zu essen bringen lassen. Und nach seinem allerletzten Gespräch brauchte sie nicht zu suchen. Die Nummer kannte sie nur zu gut. Sidensvans hatte mit irgendwem im Grønlandsleiret 44 gesprochen.
Um 14.29 am Donnerstag, dem 19. Dezember hatte Knut Sidensvans also das allerletzte Telefongespräch seines Lebens geführt, und zwar mit jemandem von der Polizei.
Das war eigentlich nicht weiter überraschend.
Er hatte an einem Artikel über die Polizei gearbeitet. Knut Sidensvans hatte über die Polizei schreiben sollen und dort natürlich Informanten gehabt.
Es war also nicht weiter überraschend.
Das allerletzte Telefongespräch seines ganzen Lebens.
Wieder empfand Hanne diese sonderbare Angst. Sie machte ihr das Herz schwer; eine Traurigkeit, vermischt mit Angst, die sie verunsicherte und Heimweh in ihr aufkommen ließ. Sie versuchte, sich zu erinnern, wann ihr zuletzt so zumute gewesen war, ob ihr jemals ein Fall solche Angst gemacht hatte, daß sie am liebsten aufgegeben hätte.
Ihr wurde heiß. Als sie die Nummer der Auskunft wählte, merkte sie, daß ihre Hände dennoch eiskalt waren.
»Åshild Meier«, bat sie. »In Drøbak. Bitte, stellen Sie mich gleich durch.«
Die Verlagslektorin meldete sich nach dreimaligem Klingeln, sie klang überaus schlaftrunken.
»Dieses Buch ist ziemlich umfassend«, sagte sie, als Hanne sich für den Zeitpunkt ihres Anrufs entschuldigt hatte. »Es ist eher ein Nachschlagewerk. Es enthält insgesamt mehr als dreißig Artikel, wir haben uns für die Artikelform entschieden, statt einer eher chronologischen, einheitlichen …«
»Worüber sollte Sidensvans schreiben?« fiel Hanne ihr ins Wort.
»Er sollte sich die Kriminalitätsentwicklung in den Großstädten vornehmen«, sagte Åshild Meier. »Von 1970 bis heute. Sidensvans kannte sich doch so gut mit Statistiken aus, und da dachten wir, er könnte einige Trends skizzieren, so könnte man das sagen. Er sollte die Entwicklung in Oslo und Bergen mit der in drei ausgewählten Kleinstädten vergleichen. Eine umfassende Arbeit, natürlich. Mehrere der Artikel hätten als eigenständige Abhandlungen durchgehen können. Aber das Buch soll ja auch erst im Januar 2006 erscheinen. Dann feiert das Polizeidirektorat seinen fünfzigsten Geburtstag. Aber das wissen Sie ja.«
»Wie weit war er gekommen?«
Hanne hatte das Gefühl, daß die Frau am anderen Ende der Leitung ihren Puls hören konnte, und sie gab sich alle Mühe, sich nicht auch noch atemlos anzuhören.
Åshild Meier zögerte mit der Antwort.
»Es hat uns ein wenig Probleme gemacht, ihn als Forscher anerkennen zu lassen«, sagte sie schließlich. »Er gehört doch keiner Forschungsinstitution an. Und er brauchte schließlich Zugang zu Archiven und so weiter. Aber darum hat sich dann am Ende das Direktorat gekümmert.«
»Aber wie weit war er gekommen?«
»Noch nicht sehr weit. Er hatte bisher noch nichts geschrieben, glaube ich. Aber nach allem, was er bei unserem letzten Gespräch erzählt hat, hatte er sich schon über allerlei Fälle informiert. Warum … worum geht es hier eigentlich?«
Hanne gab keine Antwort. Aus ihrer linken Achselhöhle strömte kalter Schweiß. Sie glaubte, auf dem Gang Schritte zu hören. Sie hörte oft Schritte auf dem Gang, aber diese
Weitere Kostenlose Bücher