Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
legte ihm die Hand auf den Unterarm. Deshalb ließ er überrascht den Blick sinken.
Die Bilder zeigten nicht Mabelle. Sondern Hermine.
Als er sah, wer hinter ihr stand, und als er nach einigen Sekunden endlich begriff, was seine Schwester und Onkel Alfred da machten, beugte er sich zur Seite und erbrach sich.
Niemand sagte etwas. Er besudelte sich selbst und auch den Boden, aber niemand rührte auch nur einen Finger.
Carl-Christian nahm in seinem Kopf ein Licht wahr, eine stille, weiße Explosion. Auf einmal schien alles ganz deutlich zu werden, die vielen Jahre zu Hause, die vielen Streitereien, die gespannte Atmosphäre, der verletzte Blick der Mutter und die harte Hand des Vaters, die alles im Griff hatte, Hermines Versuche, sich durch die unwegsame, verminte Landschaft zu manövrieren, die die Familie Stahlberg immer dargestellt hatte. Er sah den Onkel vor sich, schmeichlerisch, verlogen und doch niemals verstoßen.
Carl-Christian begriff jetzt auf einen Schlag, warum Hermann seiner Tochter zu ihrem zwanzigsten Geburtstag ein Vermögen geschenkt hatte. Er sah plötzlich ein, als er sich ein weiteres Mal erbrach, daß er das alles schon längst hätte durchschauen können. Daß alles anders gekommen wäre, wenn er die Wahrheit nur hätte sehen wollen.
Als er sich endlich wieder aufrecht setzen konnte, mußte er sich an der Tischplatte festhalten, um nicht vom Stuhl zu gleiten. Sein Kopf fühlte sich leicht an, sein Magen war leer und heiß. In ihm gab es nur Platz für ein einziges Gefühl: Er haßte seinen Vater jetzt glühender denn je.
»Ich habe sie umgebracht«, sagte er. »Ich habe meine Eltern und meinen Bruder umgebracht.«
Silje Sørensen riß verdutzt die Augen auf. Von allen durchsichtigen Lügen, die dieser Mann ihnen seit seiner Verhaftung am Ersten Weihnachtstag in insgesamt mehr als elf Stunden Verhör aufgetischt hatte, war das hier die offenkundigste. Silje ließ ihren Blick von Carl-Christian zum Anwalt gleiten, in dem Versuch, zu verstehen, was jetzt plötzlich los war.
»Warum … aber das kann nicht …«, setzte sie an.
»Ich habe sie umgebracht«, sagte Carl-Christian und erhob sich.
Dann nahm er das oberste Bild und riß es in winzige Fetzen.
»Mein Junge!«
Die alte Dame im Blindernvei streckte begeistert die Arme aus, um ihren Besucher an sich zu ziehen.
»Du wolltest doch erst am Montag kommen! Und jetzt bist du schon hier!«
Ihr Sohn sank auf die Knie und ließ sich von seiner Mutter umarmen.
»Das kam mir so lang vor«, murmelte er halb erstickt in ihre dicke Wolljacke hinein. »Konnte dich doch nicht allein hier sitzen lassen. Stephanie und die Kinder kommen erst am Montagmorgen. Ich dachte, wir könnten zwei Tage für uns haben. Jetzt, wo alles nicht mehr ganz so frisch ist.«
»Du bist so lieb«, sagte die Mutter und wollte ihn gar nicht loslassen.
»Und das bei deiner Arbeit und allem …«
»Jetzt zu Weihnachten ist nicht so schrecklich viel zu tun«, sagte er und machte sich endlich los. »Ich mußte nur schnell ein paar Sachen regeln. Wo das mit Papa so plötzlich passiert ist und ich doch …«
»Den ganzen Weg aus Frankreich«, sagte die Mutter. »Du bist ein lieber Junge, Terje. Zweimal in einer Woche diese weite Reise zu machen. Du brauchst dich doch nicht so um mich zu sorgen. So ein lieber Junge.«
Terje Wetterland lachte und ging in die Küche, um Teewasser aufzusetzen.
»Das wäre ja noch schöner«, rief er, Tassen und Kanne klirrten. »Ich hatte ja schon ein schlechtes Gewissen, weil ich dich überhaupt allein gelassen habe. Wir werden … aber was ist das hier eigentlich?«
»Was denn, mein Lieber? Der Tee ist in der verschlossenen Dose neben …«
»Ich meine diese Papiere auf dem Küchentisch.«
»Ach, die …«
Sie stand jetzt wieder in der Türöffnung.
»Das ist nur ein Ordner, den dein Vater mit nach Hause gebracht hatte. Er lag neben seinem Bett. An dem Abend …«
Ihr kamen die Tränen, und sie schloß die Augen.
»Mama«, sagte Terje Wetterland und setzte sich neben sie. »Wir werden uns daran gewöhnen. Ich werde dafür sorgen, daß ich häufiger in Norwegen zu tun habe, damit ich dich öfter besuchen kann. Wir schaffen das, Mama.«
Rasch wischte sie sich die Tränen fort.
»Natürlich. Ich hatte Angst, diese Papiere im Schlafzimmer zu vergessen, und deshalb habe ich sie so hingelegt, daß du sie finden mußtest. Kannst du dich darum kümmern, wenn du in seinem Archiv aufräumst? Denn du hast doch gesagt … du bleibst
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