Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
wisse jetzt auch, daß Fledermäuse in Höhlen, Kirchen, auf Dachböden und an anderen dunklen, geräumigen Orten lebten und daß sie sich natürlich in einem kleinen, mit Kleidern und Schuhen vollgestopften Schrank niemals wohl fühlen würden. Außerdem wisse sie jetzt, daß es in Norwegen überhaupt keine Vampirfledermäuse gebe. Ihr Vater nickte zufrieden und kam nachts nicht mehr in ihr Zimmer.
Hanne hatte Nefis jetzt überall bei sich, weich und hart und heftig.
Donnerstag, 26. Dezember
Die alte Dame im Blindernvei war wieder allein. Ihr Sohn hatte sie am frühen Morgen verlassen, er mußte sein Flugzeug erreichen. Am Montag würde er zurückkehren, zur Beerdigung, zwischendurch aber wurde er zu Hause gebraucht. Und das war ja auch klar. Er hatte Frau und Kinder und eine anstrengende Arbeit. Sein eigenes Leben. So, wie sie selbst sich eins aufbauen mußte, jetzt, wo Karl-Oskar tot war. Entweder du oder ich, zur selben Zeit sterben wir nicht, hatte ihr Mann immer gesagt. Und beide hatten insgeheim gebetet, als erste gehen zu dürfen. Aber dann war sie übriggeblieben.
Terje hatte alles für sie in Ordnung gebracht. Oder, richtiger, mit ihr zusammen. Gemeinsam waren sie Schubladen und Schränke durchgegangen. Es war schön gewesen, fast feierlich, Karl-Oskar aus dem Haus zu räumen, ohne daß er jemals wirklich verschwinden würde.
Nur das Schlafzimmer hatte Terje nicht angerührt. Nur sie selbst würde Karl-Oskars persönlichste Besitztümer durchsehen.
Sein Schlafanzug lag noch immer ordentlich zusammengefaltet unter dem Kopfkissen. Sie hielt sich den weichen, abgenutzten Stoff an die Wange.
Die Kleider waren für die Heilsarmee bestimmt. Das hatten sie schon vor einigen Jahren so festgelegt, an einem der Abende, als sie mit ihrem Drink auf der Terrasse gesessen und dem Sonnenuntergang über Tåsen zugesehen hatten. Materielle Dinge sollten nicht romantisiert werden, meinte Karl-Oskar, wir geben alles den Leuten, die es dringender brauchen als wir. Kleider und alles andere, was von keiner besonderen Bedeutung für den überlebenden Teil war, sollten aus dem Haus. Seine Stimme klang fast schroff, als er das sagte, als finde er es plötzlich geschmacklos, über Tod und Sterben zu sprechen.
Der überlebende Teil, das war also sie.
Sie legte den Schlafanzug auf die Bettdecke, erhob sich mit steifen Gliedern und ging zum Kleiderschrank. Auf halbem Weg stolperte sie über etwas.
Einen kleinen Ordner, wie sie sah, sie hob ihn auf.
Natürlich war der Notarzt im Zimmer gewesen. Er hatte versucht, Karl-Oskar wieder zum Leben zu erwecken, an diesem Donnerstag, der erst eine Woche her war. Ihr kam es länger vor. Das Erinnern fiel ihr schwer. Der Ordner hatte offenbar auf dem Nachttisch gelegen und war in der Hektik der Wiederbelebungsversuche zu Boden gefallen. Sie hatte in den letzten Tagen nicht sehr auf solche Dinge geachtet. Freitag morgen war die komische kleine Pastorin gekommen, und Kristina hatte zum letzten Mal das Bett ihres Mannes gemacht. Dabei war ihr nichts aufgefallen.
Das Haus war mit Blumen gefüllt. Selbst jetzt, zu den Feiertagen, hatten Freunde und Bekannte, Geschäftspartner und entfernte Verwandte sich die Mühe gemacht, ihr Beileid zu bekunden. Niemand hatte sich nach einem Ordner erkundigt. Sicher enthielt der also auch nichts Wichtiges.
Kristina versuchte, sich zu erinnern, was Karl-Oskar eigentlich für einen Termin gehabt hatte, an diesem schicksalhaften Abend kurz vor Weihnachten. Sie rieb die Hände aneinander und wiegte sich hin und her.
Er hatte es ihr wohl überhaupt nicht erzählt. Denn sonst hätte sie sich daran erinnert, da war sie sich sicher.
Sie war fast fünfzig Jahre mit einem Anwalt verheiratet gewesen. Niemals hatte sie die Papiere ihres Mannes angerührt.
Kristina legte den ungeöffneten Ordner auf den Nachttisch ihres Mannes. Terje konnte sich nach seiner Rückkehr den Inhalt ansehen. Sie holte tief Atem und stapfte zum Kleiderschrank hinüber. Früher oder später mußte der ausgeräumt werden, und da brachte sie die Sache lieber gleich hinter sich.
Carl-Christian Stahlberg wagte nicht, das Wasserglas zum Mund zu führen. Statt dessen setzte er sich auf seine eigenen Hände. Der Durst ließ seine Zunge hart werden, er bewegte sie im Mund, um die Speichelproduktion anzuregen. Irgendwer hatte vergessen, ihm für die Nacht Wasser zu geben. Vielleicht war es auch kein Vergessen gewesen. Er hatte keine Ahnung, aber es gab ja immerhin Gerüchte. Natürlich wurde
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