Die Wahrheit deiner Berührung (German Edition)
unterhalten oder gar zu treffen. Es hatte den Anschein, als träfen in England die Mütter sämtliche Entscheidungen. Entscheidungen, die einzig darauf ausgerichtet waren, dem Leben sämtlichen Spaß zu rauben. Wärest du in England aufgewachsen, würdest du Limonade statt Champagner trinken . England – das klang unendlich trist, und die Mädchen dort waren vermutlich so langweilig wie Sonntagspredigten.
Die kurze Stille hatte dazu geführt, dass ihre Mutter sich ihrer Probleme abermals bewusst geworden war. Sie presste die Lippen zusammen, während sie nach einem Taschentuch tastete.
»Hat er die Uhr nach dir geworfen?«, fragte Mina sanft.
Harriet drückte das Seidentuch auf die Augen und holte keuchend Luft. »Natürlich nicht.«
»Aber er hat sie geworfen, oder?«
Keine Antwort. Was für eine Rolle spielten noch die Details? Selbst wenn er heute keine Gegenstände nach ihr geworfen hatte, gab es keine Garantie dafür, dass er sein Ziel morgen nicht treffen würde.
Die Schultern ihrer Mutter bebten. Das Tuch dämpfte ihr Schluchzen.
Nimm sie in den Arm . Doch Minas Muskeln gehorchten ihr nicht, sträubten sich und zogen sich zusammen wie erhärtender Ton. »Ich habe Angst um dich«, brachte sie hervor.
»Oh …« Harriet legte das Taschentuch beiseite und sank in die Arme ihrer Tochter. Mina hielt sie fest und spürte, wie ihr Tränen über die Brust und unter das Mieder kullerten. Der Körper ihrer Mutter erbebte vor einem Gram, der mächtiger als ihre körperlichen Ressourcen zu sein schien. Die Baumwolle ihres Nachthemdes kaschierte nichts; keine Wölbung, keine Unebenheit ihres Rückens blieb Minas Fingern verborgen. Sie waren beide von gleicher Größe und hätten dieselben Kleider tragen können, doch Mina fühlte sich robuster und kräftiger an. Es bereitete ihr unendlichen Kummer, dass ihre Mutter so zerbrechlich war.
Sie schlang die Arme fester um sie. Ihre Mutter vermochte ausgiebiger zu weinen als die Marmorengel im Garten der Rockefellers – jene, aus denen Wasserfontänen heraussprudelten.
Ihre Ungeduld beschämte Mina. Sie richtete sich ein wenig auf und atmete tief durch, um mit ihrem in solchen Situationen üblichen Ritual zu beginnen. Es bestand zum größten Teil aus Beteuerungen ( er hat es nicht so gemeint ), Beruhigungen ( er wird dich nicht verlassen ) und Versprechungen ( er wird dich niemals verlassen ). Doch dieses Mal empfand Mina vor allem eine tiefe Erschöpfung. Ihr fehlte die Kraft, die üblichen Lügen herunterzuleiern, denn – beim Allmächtigen – etwas anderes war es nicht. Du solltest nicht in meinen Armen liegen und so bitterlich weinen , dachte sie. Du bist meine Mutter. Ich sollte diejenige sein, die sich bei dir ausweint.
Sie gab sich einen Ruck. »Schon gut«, murmelte sie und staunte, wie gütig ihre Stimme klang. Sie konnte es also doch noch. »Schon gut.« Mina stützte das Kinn auf den Scheitel ihrer Mutter und schaute aus dem Fenster. Wie Schneeflocken wirbelten weiße Kamelienblätter im Mondlicht umher. Den Berg hinab, entlang des Weges, den sich der warme Wind bahnte, versank der Hafen von Hongkong allmählich im Schlaf. Sanft schwankten die Segel in der Bucht, fast wie ein Strauch voll weißer Blüten, in denen sich der Wind verfangen hatte.
Der traumhafte Anblick ließ etwas von Mina weichen, das einer kalten und rauen Kette aus Eis glich. Womöglich war es Einsamkeit. Der Champagner hatte ein trockenes Gefühl in ihrem Mund hinterlassen. Stets hatte sie gehofft, derartige Nächte würden einen anderen Verlauf nehmen. »Hör auf zu weinen«, flüsterte sie. »Alles wird gut.«
»Nein. Es war ein entsetzlicher Streit. Er war so ungemein wütend auf mich! Manchmal denke ich, er hasst mich.«
»Sei nicht albern. Warum sollte er dich hassen?« Sie brachte es nicht fertig, den Gedanken weiter auszuführen oder die Worte laut auszusprechen: Er liebt dich . Etwas in ihr sträubte sich, wohlwollend von ihrem Stiefvater zu reden. »Schon bald wird er dir sagen, dass es ihm leidtut.«
»Nein, dieses Mal nicht. Es war sein voller Ernst.«
Mina schloss die Augen. Wie oft hatte ihre Mutter ihr mit dieser Art von Gesprächen Angst eingejagt. Danach hatte Mina unruhig wach gelegen und sich um ihrer beider Sicherheit gesorgt, hatte sich alle möglichen Horrorszenarien für den kommenden Morgen ausgemalt: ihre Mutter mit einem blauen Auge oder mit gebrochenem Arm, Collins’ Wächter, die auf sie warteten, um sie auf die Straße zu setzen. Wenn wir doch nur
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