Die Wahrheit deiner Berührung (German Edition)
so schwankte. Das Einzige, das gleich blieb, war die lauernde Dunkelheit hinter ihren Augen.
Als Ashmore die Hand in ihr Haar gleiten ließ und etwas zu ihr sagte, nahm sie seine Stimme wie durch eine dicke Watteschicht wahr. Das leise, warme und weiche Murmeln an ihrer Stirn erinnerte sie an Sonnenstrahlen. In London würde alles wieder gut werden. In London würden sie alles wieder ins Lot bringen. Wie oft hatte sie versucht, die Tränen ihrer Mutter mit eben diesem Trost zu trocknen? Sie hatte nichts unversucht gelassen, doch ihre Stimme war lange nicht so wundervoll wie seine und ihr Schoß nicht annähernd groß genug, als dass ihre Mutter sich darauf hätte zusammenrollen können. Kein einziges Mal hatte sie ihrer Mutter den Kummer nehmen können; erst jetzt verstand Mina, wonach sich ihre Mutter in Wahrheit gesehnt hatte. Es war nichts Schlimmes dabei, gehalten zu werden, klein genug zu sein, um gehalten zu werden. Als sich Ashmores Arme um sie schlossen, fand Mina in ihrem Innern einen Ort der Ruhe – einen Ort, von dem sie stets gedacht hatte, er wäre unerreichbar, und dass sie nie würde geheilt werden können.
Ich kann mich selbst trösten, hatte sie stets zu ihrer Mutter gesagt. Und so war es auch, wenn es sein musste. Aber warum sollte sie nicht zulassen, dass ein anderer ihr Trost spendete? Bislang hatte er jedes Versprechen, das er ihr gegeben hatte, auch gehalten. In jener Nacht, als er sie aus Whitechapel geholt hatte, hatte er die Wahrheit gesagt: Er hatte nie versprochen, dass man Collins vor Sonnenuntergang verhaften würde. Womöglich hatte sie diese Art der Haarspalterei verabscheut, weil sie so wenig Übung darin hatte, die Wahrheit in Worte zu fassen. Die Wahrheit war nicht immer angenehm und brachte Menschen zuweilen dazu, anderen mit abgrundtiefem Hass zu begegnen, bis sie es besser wussten und Dankbarkeit empfinden konnten. Ich wünschte, Mutter hätte jemanden wie Sie .
Die Worte drängten nach außen, doch als sie sie aussprach, klangen sie anders, als sie erwartet hatte. Vermutlich, weil die Kraft, die in ihnen steckte, seltsam und erschreckend anmutete. Ich möchte jemanden wie Sie . »Sie wollten mich nicht berühren«, sagte sie.
»Nein«, sagte er. »Ich habe es gewollt.«
Mina musste kräftig schlucken. »Nein. Ich spreche von Hongkong.«
Seine Lippen streichelten ihre Stirn. »Doch, Mina«, murmelte er. »Schon damals.«
Er log. Vielleicht hatte er damals einfach nur ein wenig Ablenkung gesucht, doch sein Auftrag hatte es ihm nicht erlaubt. »Sie haben mich für ein Dummchen gehalten.« Ihre Stimme klang verzerrt, weil ihr Atem in Schüben ging. »Sie hielten mich für ein Flittchen. Einen vorlauten, hohlköpfigen Flirt.«
Unter ihrer Hand spürte Mina das kraftvolle Schlagen seines Herzens. Jemand, der stets den Wunsch nach Wachsamkeit verspürte, vergaß schnell, dass andere aus Blut und Fleisch und nicht aus Stein gemeißelt waren. Selbst so manche Grausamkeiten wurden durch warmes Blut angetrieben – Collins hatte nach dem Tod seines Bruders getrauert, und Bonham hatte es geschafft, sie ein- oder zweimal zum Lachen zu bringen. Selbst der ärgste Verbrecher seufzte in der Nacht und sehnte sich nach Zuneigung. Ihre Mutter hatte recht: Sie war kaltherzig geworden, was sie daran erkannte, dass sie sich derlei erst wieder in Erinnerung rufen musste.
Wie ein Kätzchen schmiegte Mina sich an seine warme starke Brust und spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Für gewöhnlich lag ein Schleier über seinen dunklen Augen. Als sie sich jetzt jedoch von ihm löste, ließ er sie alles sehen, sein Bedauern und sein Zögern, ihr gegenüber ehrlich zu sein. »Ja«, sagte er. »Sie haben recht. Genau das habe ich gedacht.« Er legte die Hand um ihre Wange, und sein Daumen strich ihr über den Mundwinkel.
Seine Aufrichtigkeit erleichterte sie, und sie hatte den Wunsch, ihn zu küssen. »Danke«, raunte sie, während ihre freie Hand nach seinem Arm tastete, ihn zu sich heranzog und über die Narbe am Handgelenk fühlte. »Wussten Sie, dass ich auch Narben habe?«
»Ja«, sagte er.
Es verwunderte sie nicht, dass er davon wusste, bislang aber kein Wort darüber verloren hatte. Manchmal besaß er ein ziemliches Talent für Diskretion. »Sie waren so sehr überrascht, als ich Sie mit dem Koka aus der Bewusstlosigkeit geholt habe.«
Mina legte die Hand an seinen Mund und fuhr mit dem Finger über das angedeutete Lächeln auf seinen Lippen, ehe er an ihrem Finger vorbei sagte:
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