Die Wahrheit deiner Berührung (German Edition)
Schattens auf ihrem Antlitz zu entdecken. »Wen würden Sie denn gern ins Jenseits befördern?«
Auf der anderen Seite des Bahnwärterhäuschens zog sich eine Eichenallee hin, die Baumkronen filterten das Sonnenlicht, das den Boden sprenkelte. Der Duft wilder Rosen, von Geißblatt und Heu erfüllte die Luft und irgendwo ganz in der Nähe sang eine Nachtigall.
Das gellende Pfeifen der Lokomotive scheuchte eine Vogelschar auf, die sich in einer der Eichen niedergelassen hatte. »Niemanden im Besonderen«, antwortete Mina. »Eher eine Kategorie ganz allgemein. Es ist unwahrscheinlich, dass ich je einen Mord verübe, aber wenn man wüsste, dass ich es könnte, wäre das doch recht nützlich. Wo gehen wir eigentlich hin? Und weshalb warten wir nicht einfach auf den nächsten Zug?«
Phin rief sich die Landkarte ins Bewusstsein, die er in seinem Gedächtnis abgespeichert hatte. Mit dem Entschluss, eine Kutsche im Dorf anzumieten und eine Abkürzung nach Bristol zu nehmen, griff er nach Minas Hand und führte sie die Straße hinunter. »Es ist schwer abzuschätzen, wie lange die Ohnmacht anhält. Was, wenn der Kerl am nächsten Bahnhof aussteigt, zurückläuft und uns doch noch erwischt, während wir am Bahnsteig warten? Nein, wir bleiben besser ein wenig auf der Landstraße und umgehen Swindon. Was meinen Sie eigentlich mit Kategorien ?«
Sie seufzte. »Damit meine ich euch Männer. Zumindest die meisten. Nicht alle, nein. Aber Männer wie Collins.« Sie stieß ein Geräusch der Belustigung aus. »Männer, die mich in Zimmern einsperren.«
Phin sah sie von der Seite aus an. Wenn sie ihn tatsächlich in dieselbe Schublade wie Collins steckte, wusste er, wie er vorgehen würde. »Da kann ich von Glück sagen, dass ich Sie wieder herausgelassen habe.«
»Genau genommen haben Sie das gar nicht«, entgegnete sie. »Ich habe mich selbst befreit und Sie anschließend mit Informationen versorgt, auf Basis derer Sie entschieden haben, mir meine Freiheit zu lassen. Das Lassen ist es, gegen das ich mich hier wehre.«
»Dann entschuldige ich mich dafür«, sagte er. »Zum wiederholten Mal.«
Mina schenkte ihm ein Lächeln. »Worte sind billig, Ashmore. Und wir beide verfügen über eine Menge Geld.«
Ja , dachte er mit einem Seufzen. Die nächste Gelegenheit, sie kurzerhand von den Füßen zu reißen, würde wohl doch nicht so bald kommen, wie er gehofft hatte.
11
In Shrivenham gab es lediglich eine einzige Mietkutsche, die vor allem dadurch bestach, dass sich die Fenster nicht schließen ließen und dass die Federn jeden Augenblick ihren Geist aufgeben konnten. Mina war von Anfang an skeptisch, wie weit sie mit dem klapprigen Gefährt kommen würden, und als hätte sie es geahnt, brachen bereits nach fünf Meilen die Achsen, sodass eine Weiterfahrt unmöglich war.
»Das Twin Elms is’ gleich um die Ecke«, versicherte ihnen der mürrische Fahrer. »Und wenn’s da keine Kutsche nich’ gibt, fress’ ich ’n Besen.«
Das besagte Twin Elms entpuppte sich als ein weiß verputztes Haus, dessen Eingang zwei Ulmen flankierten. Ihre knorrigen Wurzeln, die wie Finger aus dem Boden wuchsen, erweckten den Eindruck, als wollten sie nach Passanten greifen. In der ebenfalls weiß getünchten Eingangshalle trafen sie auf ein halbes Dutzend Gentlemen und eine junge Dame, die um einen dreibeinigen Tisch in der Nähe des Kamins saßen, Beefsteaks aßen und aus Bierkrügen tranken.
Als die Gruppe Phin und Mina erblickte, verstummte sie schlagartig. Während die Männer Mina unverhohlen anstarrten, erhob sich die junge Frau und wischte sich die Hände an der Schürze ab, während sie auf die Neuankömmlinge zusteuerte. Wie sich wenig später herausstellte, war sie die Tochter des Wirts. Ein hübsches Mädchen mit einem etwas zu breiten Gesicht, dessen rosiger Teint einen interessanten Kontrast zu ihrem ebenholzfarbenen Haar bildete. Mina mochte sie auf Anhieb, wenn auch nur wegen der Tatsache, dass sie allein mit den Männern zusammensaß und mit ihnen aß, trank und plauderte, als wäre es das Normalste von der Welt. Wie es schien, gab es so manches, das Mina noch über moderne englische Mädchen lernen konnte.
Leider Gottes war besagte junge Frau jedoch nicht in der Lage, ihr direkt in die Augen zu sehen. Nachdem sie mit weit aufgerissenen Augen Minas Gesicht und Kleid gemustert hatte, schluckte sie und richtete das Wort lediglich an Ashmore.
»Ach du ahnst es nicht«, sagte sie, nachdem Ashmore ihr kurz geschildert hatte, was
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