Die Wahrheit deiner Berührung (German Edition)
menschlichen Körpers zu erforschen.
»Heute …« Er tat einen langen Atemzug. »Zugegeben, ein wenig Spaß hat es mir schon gemacht.«
Dass er sich im Moment jedoch nicht sonderlich wohlfühlte, war unverkennbar, sonst würde er die Finger nicht ständig anspannen und wieder entspannen. Fast so, als wollte er sein Zugeständnis widerrufen. Wieder einmal wanderten ihre Gedanken zu seiner Bemerkung über ihren Kuss zurück; er hatte sie der Sünde bezichtigt. Vielleicht war es eine Eigenart der englischen Seele, die ihn dazu brachte, die Lust infrage zu stellen, die er empfunden haben musste … Ihre Mutter gehörte ebenfalls zu der Sorte Mensch, die jegliche Form von Amüsement unter Generalverdacht stellte. War ein Kleid hübsch, fand sie einen Weg, ihre Bewunderung herabzusetzen, indem sie kritisierte, wie es an ihr aussah. Lachte Mina einmal zu laut, nahm sie sie beiseite und rügte sie wegen ihres undamenhaften Benehmens. Es ging meist um kleine Dinge, die kritisiert wurden. Doch die Kritik summierte sich, tagaus, tagein, und verfolgte nur ein Ziel: dem Leben jeglichen Spaß zu nehmen.
Welche Motivation mochte sich dahinter verbergen? Grausamkeiten waren auf dieser Welt an der Tagesordnung: Vermögen gingen verloren, Kinder litten unter ihren Eltern, Krankheiten befielen Männer im besten Alter, deren Frauen und Töchter dann an deren Bett saßen und sinnlos beteten. Fast grundlos fügten Menschen einander Leid zu, nur um ihre Macht zu demonstrieren. Angesichts der Vielzahl drohender Gefahren machte es kaum Sinn, sich selbst zu kasteien, oder? Bereite dich auf das Schlimmste vor, suche aber stets nach dem Vergnügen, lautete ihre Philosophie, die bei ihrer Mutter jedoch auf völliges Unverständnis stieß. Manchmal fragte Mina sich, ob es die Erwartung auf die vorhersehbare quälende Unterdrückung gewesen war, die ihre Mutter in Collins’ Arme getrieben hatte. Womöglich eröffnete seine entsetzliche Forderung nach Disziplin und Gehorsam ihr eine perverse Form der Freiheit – da sie sich seiner Züchtigung sicher sein konnte, musste sie sich nicht selbst bestrafen.
Obwohl es ihr widerstrebte, verspürte Mina ein gewisses Maß an Mitleid für Ashmore. Er hatte sie in ein Zimmer gesperrt, ja, aber immerhin hatte ihr Gefängnis Mauern aus Stein und Fenster gehabt, die eingeworfen werden konnten. Menschen wie ihre Mutter und er, vorausgesetzt, seine Natur war ähnlich angelegt, trugen ihr Gefängnis stets mit sich. Ihnen gelang es nie zu flüchten, einerlei, wie sehr Außenstehende auch versuchen mochten, ihnen dabei behilflich zu sein.
Wie dem auch sei, in Anbetracht seiner Erfolge hatte Ashmore heute wahrlich keinen Grund, niedergeschlagen zu sein. »Dank Ihnen konnten wir aus dem Zug fliehen«, sagte sie. »Nur Ihretwegen konnte er uns nicht mehr verfolgen. Der Trick mit der Zeitung war genial. Ich finde, Sie haben allen Grund, stolz auf sich zu sein.«
Ashmore stimmte ein Lachen an, das freundlich klang. Es schien ihn zu freuen, dass sie ihn bestärkte. »Sind Sie es denn?«
»Ich bin unendlich stolz auf mich«, sagte sie lächelnd. »Sie müssen zugeben, dass die Frage, die ich der Lady gestellt habe, ziemlich clever war, oder?«
»Sehr clever. Sie sind ein wahres Naturtalent.«
»Genau wie Sie«, sagte sie.
Sein Mund verzog sich, als schmeckte das Lob bitter. »Ich denke, es gibt weitaus wichtigere Dinge, die Stolz verdienten.«
Der Wunsch, sich neben ihn auf das Bett zu setzen und ihm das Haar aus dem Gesicht zu streichen, wurde mit jedem Herzschlag stärker. Die Aussicht darauf bereitete ihr auf unergründliche Weise Freude. Die Vorstellung, dass dieser verschlossene, arrogante Mann, der sie in Hongkong wie ein Stück Treibgut behandelt hatte, merkte, dass er etwas von ihr lernen konnte, gefiel ihr.
Zufrieden griff sie abermals nach dem Wein. »Stolz und Vergnügen sind zweierlei Paar Schuhe«, sagte sie. Wie oft ging ein Spaß auf Kosten des Stolzes eines anderen? Angenommen, sie setzte sich neben ihn aufs Bett, streichelte ihm die Wange und bot ihm ihren Rat an, würde er dann seine Vernünftigkeit vergessen und sich über sie lustig machen? Erst würde sie sich töricht, dann peinlich berührt und entblößt fühlen, und sie würde wütend auf sich selbst sein, wegen der offenen Worte, die sie gefunden hatte. Was war es, das seine Augen ausstrahlten und ihr sagte, sie könne ihm vertrauen? Selbst jetzt noch, nachdem er sich als unberechenbar erwiesen hatte.
Risiken, dachte sie. Dieses
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