Die Wahrheit der letzten Stunde
mit dem Umstand einher, dass er schon vor langer Zeit den Glauben an Gott verloren hatte. Was für ein Gott hätte ihm die Eltern genommen, ja die ganze Kindheit geraubt? Mehr noch, was für ein Gott hätte seinem Bruder das angetan? Ian war wütend, und zu seiner Überraschung stellte er fest, dass die Leute ihm zuhörten: erst die Englischlehrer an der Grundschule, dann Theologiedozenten, gefolgt von Radiohörern, Fernsehproduzenten und -Zuschauern. Je berühmter er wurde, desto leichter fiel es ihm, die Kosten für Michaels Pflegeplatz in Lockwood zu finanzieren. Je aggressiver er wurde, desto schneller eignete er sich wieder den Lebensstil an, den er in früher Kindheit gekannt hatte.
Als Michael zweiundzwanzig war, fing er wieder an, selbstständig zu essen. Mit sechsundzwanzig konnte er sein Hemd alleine zuknöpfen. Mit siebenunddreißig lehnte er immer noch jegliche Berührung ab.
Plötzlich versteht Mariah, wie er so geworden ist. Er hat Jahre darauf verwandt, den hilflosen kleinen Jungen abzuschütteln, der er gewesen ist, um sich in jemanden zu verwandeln, dessen Lebensinhalt sein »Unglaube« ist - und das mit gutem Grund. Wie schmerzlich es gewesen sein muss, auf ein Wunder zu hoffen, dafür zu beten.
Aber ihr ist noch etwas klar geworden: Ian mag ja einen Platz für seinen Bruder in Lockwood bekommen haben, es mag ihm auch gelungen sein, finanziell so erfolgreich zu sein, dass er für die Pflege seines Bruders aufkommen kann, aber ihre Intuition sagt ihm, dass Ian verwehrt geblieben ist, was er am meisten braucht. Sein ganzes Leben hat er sich um Michael gekümmert - aber es ist Jahre her, dass jemand sich um ihn gekümmert hat.
Mariah fängt ganz behutsam an, streicht mit der Hand über sein Haar und dreht diese dann um, sodass ihre Fingerknöchel über seinen Hals und seinen Kiefer gleiten. Sie hebt die Hände an seine Wangen, lässt sie über seine Schultern gleiten und beobachtet, wie er genießerisch die Augen schließt wie eine Katze in der Sonne. Dann legt sie fest die Arme um ihn, vergräbt das Gesicht in seiner Halsbeuge und fühlt, wie er erschauert.
Seine Arme schließen sich so fest um sie, dass sie keine Luft mehr bekommt, gar nichts anderes mehr tun kann, als sich von der Welle seiner Bedürfnisse tragen zu lassen. Seine Hände fahren über ihren Rücken und ihre Schultern, und sie fühlt seine Lippen an ihrem Ohr. »Danke«, flüstert er.
Mariah biegt den Kopf zurück und küsst ihn. »Es war mir ein Vergnügen.«
Ian lächelt. »Das wollen wir doch hoffen.« Er küsst sie und lässt dann die Lippen über ihre Haut wandern. Er zieht sie aus, nimmt ein Kondom aus seiner Brieftasche und lässt seine Hände und Zunge ihren Körper erforschen. Bildet sie sich das nur ein, oder widmet er sich tatsächlich besonders lange ihren Handgelenken mit den Narben, derer sie sich immer noch schämt? Mariah sieht sich selbst schrumpfen, klein und wie Wachs in Ians Händen, bis sie das Gefühl hat, so winzig zu sein, dass sie in eins ihrer Hausmodelle passen würde, über die makellosen Fußböden laufen und in die blanken Spiegel schauen könnte. Sie öffnet die Augen, als Ian sich auf sie legt und in sie eindringt.
Sie sagt sich, dass es Jahre gedauert hat, das herauszufinden, aber so fühlt es sich an, wenn zwei Körper perfekt zusammenpassen.
Ians Stöße werden kraftvoller. Mariah drängt ihm entgegen, ihre Finger krallen sich in seine Schultern, und ihre Zunge kostet das Salz auf seiner Haut. Sie denkt nicht mehr an Ians Vergangenheit, an Faith’ Zukunft, an irgendetwas. Und unmittelbar bevor sie sich in Ekstase verliert, hört sie Ians Stimme ganz sacht über ihre Schläfe streichen. »Oh«, stöhnt er, als er sich in ihr verliert. »O Gott!«
»Habe ich nicht«, sagt Ian lachend. »Hast du wohl.«
»Was meinst du, woran das liegt? Ich meine, es ist etwas ganz Alltägliches, warum also sollte ich Gottes Namen rufen, wenn wir beide miteinander schlafen?«
»Macht der Gewohnheit, würde ich sagen«, entgegnet sie lachend.
»Für dich vielleicht.« Er legt die Arme um sie, immer noch staunend über den Frieden, den er fühlt, alle Wogen geglättet. »Ich denke, es hat mehr mit Göttlichkeit zu tun.«
Mariah dreht sich in seinen Armen. »Hat es das?«, fragt sie und weicht seinem Blick aus. »War es … okay?«
Ian wölbt die Brauen. »Musst du da noch fragen?«
Sie zuckt die Achseln, und sein Körper spannt sich unwillkürlich an. »Es ist nur… also, ich habe mich immer gefragt,
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