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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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seinen Kleidern jedes Wort aufzeichnen.
     
    26. Oktober 1999
     
    Lockwood ist ein hässliches Heim. Flurwände und Fußböden sind pistaziengrün. Auf den Korridoren reihen sich Türen aneinander wie Dominosteine, und an jeder von ihnen ist außen ein kleiner Kasten mit einer Patientenakte befestigt. Mr. Fletcher führt sie bis ans Ende des Flurs, wo sie einen Raum betreten, der um vieles freundlicher ist als alles, was Faith bisher hier gesehen hat. An den Wänden stehen Regale mit Büchern, es gibt einige Tische mit Brettspielen, und es läuft sogar klassische Musik. Der Raum erinnert sie ein wenig an die Bibliothek von New Canaan, abgesehen davon, dass in der Bücherei keine Krankenschwestern in bequemen weißen Turnschuhen herumlaufen.
    Ihre Mutter hat ihr nicht viel gesagt, außer dass sie heute einen kranken Verwandten von Mr. Fletcher besuchen werden. Ihr ist das recht; in dieser Hütte ist es aber auch zu langweilig. Außerdem gab es in einigen der Zimmer, an denen sie vorbeigekommen sind, Fernseher. Vielleicht empfängt dieser Verwandte ja den Disney-Kanal, und Faith kann fernsehen, während die Erwachsenen sich unterhalten.
    Mr. Fletcher steuert eine Ecke des Raumes an, wo ein Mann mit einem Kartenspiel sitzt. Der Mann gönnt ihnen nicht einmal einen Blick, als sie näherkommen, sondern sagt nur: »Ian ist da. Um halb vier am Dienstag. So wie immer.«
    »Fast«, antwortet Mr. Fletcher, und für Faith klingt seine Stimme irgendwie seltsam, hölzern und höher als sonst.
    Dann endlich wendet der Mann sich ihnen zu, und Faith’ Augen weiten sich. Wenn Mr. Fletcher nicht leibhaftig neben ihr stehen würde, hätte sie geglaubt, er wäre der Mann mit den Karten.
     
    Mariahs Kinnlade klappt herunter. Sein Zwillingsbruder? Jetzt erst versteht sie: warum Ian ein Geheimnis daraus macht, warum er ihn regelmäßig besucht, warum er solches Interesse daran hat, Faith mit Michael zusammenzubringen. Ians Wunsch entsprechend bleibt sie mit Faith in einiger Entfernung stehen, während er langsam auf seinen Bruder zugeht. »Hallo, Sportsfreund«, sagt Ian.
    »Karozehn. Kreuzacht.« Die Karten fallen auf einen unordentlichen Haufen auf dem Tisch.
    »Kreuzacht«, wiederholt Ian und setzt sich auf einen Stuhl.
    Ian hat ihr erklärt, dass Michael als hochgradig autistisch diagnostiziert wurde. Seine Überlebensstrategie in der realen Welt besteht darin, sich an eine immer gleiche Routine zu halten. Veränderungen dieser Routine machen ihm Angst. Eine Kleinigkeit wie eine andere Anordnung des Bestecks auf seiner Serviette oder auch, dass Ian zwei Minuten länger bleibt als gewöhnlich kann als Auslöser genügen. Und er kann es nicht ertragen, angefasst zu werden.
    Ian hat ihr erklärt, dass Michaels Zustand sich nie bessern wird.
    Faith zerrt an ihrer Hand. »Lass mich los«, verlangt sie leise.
    Michael dreht ein Ass um. »O nein.«
    » Ass und Trumpf«, sagen die Brüder im Chor. Etwas an dieser Szene rührt Mariah zutiefst: Ian, der nur Zentimeter von einem Mann entfernt sitzt, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ist, und versucht, einen Kontakt zu diesem herzustellen über sinnlose Worte. Sie hebt die Hand, um sich verstohlen die Tränen aus den Augen zu wischen, und erst jetzt wird ihr bewusst, dass sie nicht mehr Faith’ Hand hält.
    Ihre Tochter nähert sich dem Kartentisch. »Darf ich mitspielen?«
    Wie erstarrt wartet Ian Michaels Reaktion ab. Er blickt von Ian auf Faith, dann wieder auf Ian und schreit aus Leibeskräften: »Ian kommt allein! Um halb vier am Dienstag. Nicht Montag Mittwoch Donnerstag Freitag Samstag Sonntag; allein allein allein!« Mit einer zornigen Geste schleudert er die Karten vom Tisch, sodass sie auf seinem Schoß und auf dem Fußboden landen.
    »Faith.« Mariah versucht, sie wegzuziehen, als auch schon eine Schwester herbeieilt, um Michael zu beruhigen. Aber Faith kriecht unbeirrt auf allen vieren über den Fußboden und sammelt die Karten ein. Michael wiegt sich vor und zurück, und die beschwichtigenden Worte der Krankenschwester, die wohlweislich darauf verzichtet, ihn anzufassen, scheinen von ihm abzuprallen wie Regentropfen von einer Öljacke. Faith legt das Kartenspiel schüchtern auf den Tisch und blickt neugierig zu dem erwachsenen Mann mit dem Verstand eines Kleinkindes auf. »Vielleicht wäre es besser, wenn Sie und Ihre Bekannte gehen, Mr. Fletcher«, sagt die Krankenschwester freundlich.
    »Aber…«
    »Bitte.«
    Ian steht ruckartig von seinem Stuhl auf und verlässt den

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