Die Wahrheit der letzten Stunde
was aus mir geworden wäre, wenn ich dreißig Pfund leichter wäre, platinblond oder mit mehr Sexappeal ausgestattet. Ich dachte, damit wäre ich vielleicht für Colin interessant geblieben.«
Ian antwortet nicht gleich. »Wenn du dreißig Pfund leichter wärst, würde dich der geringste Windhauch umpusten. Wenn du platinblond wärst, würde ich dich nicht wiedererkennen. Und wenn du noch mehr Sexappeal hättest, würde es mich wahrscheinlich umbringen.« Er küsste sie auf die Stirn. »Ich habe gesehen, wie geschickt du bist. Du hast mir von deinen Hausmodellen erzählt. Du hast eine großartige Tochter. Wie kommst du also auf den Gedanken, dass irgendetwas, das du tust… einschließlich Sex … etwas anderes sein könnte als wunderbar?«
Ian umfasst Mariahs Gesicht mit beiden Händen und schiebt sich geschmeidig wieder zwischen ihre Beine. »Du bist nicht perfekt. Du hast da diese eine Sommersprosse.« Er zeigt auf eine Stelle an ihrem Schlüsselbein. »Du kannst auch richtig stur sein. Und deine Hüften sind …«
»Ich habe ein Kind geboren!«
Ian lacht. »Ich weiß. Ich wollte dir nur vor Augen führen, dass niemand, wenn man pedantisch mit der Perfektion umgeht, den Anforderungen genügen würde. Ich schon gar nicht.« Zärtlich streicht er ihr über das Haar. »Colin ist ein Idiot. Und diesmal meine ich es, wenn ich sage: Gott sei Dank.«
Mariah lächelt und kuschelt sich näher an ihn auf dem Nest aus Decken, das sie sich auf dem Teppich gemacht haben. »Weißt du, welchen Begriff ich am allerschönsten finde?«
»Lass mich nachdenken.« Ian runzelt konzentriert die Stirn. »Harmonie?«
Mariah schüttelt den Kopf. »Treue Ergebenheit«, haucht sie.
Ian kann sich nicht erinnern, jemals im Leben solchen Frieden empfunden zu haben, und das ausgerechnet in diesem Höllenloch von einer Ferienhütte in Kansas. Das ist nur ein vorübergehender Zustand, das weiß er. Seine Waffenruhe. Morgen wird er Mariah eröffnen müssen, dass er die ganze Zeit gelogen hat, dass er ganz gezielt daran gearbeitet hat, ihre Sympathie zu gewinnen, seit sie das Flugzeug verlassen haben, mit dem alleinigen Zweck, Faith ein für allemal als Betrügerin entlarven zu können. Morgen wird er ihr sagen müssen, dass er Faith’ katastrophale Begegnung mit Michael auf Band aufgenommen hat, auch wenn er die Kassette nicht mehr besitzt. Morgen wird er entscheiden müssen, wie viel er seinem Producer verraten soll.
Morgen ist noch früh genug, ihren Hass auf sich zu ziehen.
»Einen Groschen für deine Gedanken«, sagt sie gähnend.
»Einen Groschen? Die sind viel mehr wert als das. »Ich denke, wir haben keinen Einfluss darauf, in wen wir uns verlieben«, flüstert Ian. »Wir tun es einfach.«
Aber Mariah atmet bereits tief und gleichmäßig, und Ian erkennt, dass sie eingeschlafen ist. Er genießt das Gewicht ihres Körpers, unter dem sein Arm einschläft und das ihn gleichzeitig wärmt. Und gleich darauf, zum ersten Mal seit Jahren, fällt Ian in tiefen, friedlichen Schlaf.
Es ist erst kurz nach fünf, als Ian sich von Mariah löst. Fürsorglich breitet er die Decke über sie, da er nicht weiß, ob sie für gewöhnlich nackt schläft, und er nicht möchte, dass Faith hereingelaufen Ttommt und sie so sieht. Eilig zieht er sich an und schreibt eine Nachricht für Mariah, in der steht, wann er zurück sein wird, wohin er geht, nichts Wichtiges.
Er fährt nach Lockwood. Er weiß selbst nicht, weshalb er dorthin zurückkehrt. Wenn sein Bruder sich schon derart aufgeregt hat über Mariahs und Faith’ Anwesenheit als krasse Unterbrechung seiner Routine, kann auch dieser unplanmäßige Besuch nur ein Reinfall werden. Es ist nur, dass er so überstürzt gegangen ist. Michael hatte geschrien, und er war davongestürmt. Er möchte nicht eine Woche warten, bis er Michael wiedersieht. Wenn Michael noch schläft, kann Jan einfach nur einen Blick auf ihn werfen, sich davon überzeugen, dass es ihm gut geht, und wieder gehen.
Das Pflegepersonal macht einen großen Bogen um ihn, als er zum Zimmer seines Bruders geht und die Tür öffnet. Michael schnarcht leise mit entspanntem Gesicht, lang auf den Laken ausgestreckt. »Hallo, Sportsfreund«, sagt Ian leise und zögert, bevor er seinem Bruder sanft über das Haar streicht.
Michael schlägt abrupt die Augen auf. »Ian?«
»Stimmt.« Er zieht die Hand zurück und wirft einen Blick auf die Uhr über der Tür, damit rechnend, dass Michael gleich anfangen wird zu schreien. Aber stattdessen
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