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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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er. Seine Lippen waren noch weicher, als ich es mir erträumt hatte. Dann unterbrach er den Kuss und wartete ab, wie ich reagieren würde.
    Ich musterte ihn lange genug, um zu erkennen, dass der unbesiegbare Colin White, der Star-Quarterback der College-Mannschaft, nervös war. Mein Herz dröhnte wie eine Kesselpauke, so laut, dass ich im ersten Moment nicht hörte, wie jemand aus der Ferne johlte und klatschte.
    Ich stand auf und rannte aus der Halle.
     
    27. Oktober 1999
     
    Nachdem Ian und ich miteinander geschlafen haben, träume ich, dass wir heiraten. Ich trage dasselbe Kleid wie schon bei meiner Hochzeit mit Colin und halte einen Brautstrauß aus Feldblumen. Allein gehe ich den Mittelgang der Kirche hinunter und lächle Ian an, dann wenden wir uns beide demjenigen zu, der die Trauung vollziehen soll. Aus einem unerfindlichen Grund erwarte ich, Rabbi Solomon zu sehen, aber als ich die Augen aufschlage, stehe ich vor Jesus am Kreuz.
    Faith hat sich an mich gekuschelt. »Warum bist du nackt?«, will sie wissen. »Und warum hast du hier geschlafen?«
    Ich fahre hoch und blicke mich suchend nach Ian um. Als klar ist, dass er nicht da ist, steigen Zweifel in mir auf: Er ist Onenight-stands gewöhnt. Er verdient sein Geld damit, dass er Menschen auf die eine oder andere Art verführt. Und ich gehöre’ aus mehr als einem Grund dazu. Ich erinnere mich noch an unser Gespräch über einen Waffenstillstand; war die vergangene Nacht eine Art, mir zu sagen, dass die Waffenruhe vorbei war?
    »Ma-a!«, quengelt Faith und reißt an meinen Haaren.
    »He!« Ich reibe mir die schmerzende Stelle am Kopf und versuche, mich auf sie zu konzentrieren. »Mir war zu warm, darum habe ich mein Nachthemd ausgezogen. Außerdem hast du geschnarcht.«
    Damit scheint Faith sich zufrieden zu geben. »Ich möchte Frühstück.«
    »Zieh dich an, dann mache ich uns etwas zu essen.«
    Als ich wieder allein bin, gehen mir tausend Gedanken durch den Kopf, und davon kein einziger mit einem Happyend. Ich bin nicht weltgewandt genug für jemanden wie Ian. Er ist gegangen, weil er mir nicht in die Augen schauen kann. Er ist nach New Hampshire zurückgeflogen und wird der ganzen Welt offenbaren, was er alles über Faith in Erfahrung gebracht hat, von ihrer Schuhgröße bis hin zu ihrer missratenen Begegnung mit Michael. Er kann sich nicht einmal mehr an das erinnern, was in der Nacht geschehen ist. Angewidert schließe ich die Augen wieder. Ich habe so etwas schon mal erlebt. Ich habe mich schon einmal in einen Mann verliebt, den ich derart idealisiert habe, dass ich ihn durch meine rosarote Brille nicht mehr so sehen konnte, wie er wirklich war.
     
    »Ich habe das nicht ernst gemeint«, hat Colin mir vor Jahren nach unserem ersten Kuss gesagt. Er gab zu, dass zwei seiner Teamkollegen zwanzig Dollar gewettet hatten, dass es ihm nicht gelingen würde, mich noch vor Ende der ersten Nachhilfestunde rumzukriegen. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, das nehme ich zurück. Ich wollte dich küssen. Erst wegen des Geldes, aber als es dann passiert ist, ging es mir plötzlich um etwas völlig anderes. Ich würde mich wirklich freuen, wenn du irgendwann einmal mit mir ausgehen würdest.«
    Drei Abende später gingen wir zusammen ins Kino. Und dann sahen wir uns noch einen Film an. Wir gingen zum Essen. Und dann, so unwahrscheinlich es auch erscheinen mochte, hatte Colin den Arm um mich gelegt, wenn wir über den Campus gingen. Für jemanden, der klein, dürr und intellektuell veranlagt war, jemanden, der sich nie großer Beliebtheit erfreut hatte, war das ein unglaubliches Gefühl. Ich tat so, als würde ich die spöttischen Bemerkungen der Cheerleader nicht hören, wenn wir an ihnen vorbeigingen, und ich ignorierte auch die hämischen Bemerkungen seiner Mannschaftskameraden, die wissen wollten, seit wann er es mit kleinen Jungs trieb.
    Colin sagte, er hätte mich gern, weil ich so nett wäre und mich interessant und überzeugend über so ziemlich jedes Thema unterhalten könne - im Gegensatz zu den meisten Debütantinnen, mit denen man ihn immer hatte verkuppeln wollen. Trotzdem war Colin diesen Mädchenschlag einfach gewöhnt. Und ob nun unbewusst oder absichtlich, begann er, mich nach und nach in eine von ihnen zu verwandeln - er kaufte mir Haarreifen, damit das Haar mir nicht mehr ins Gesicht fiel, machte mich mit Bloody Marys am Sonntagmorgen bekannt, kaufte mir sogar eine billige, falsche Perlenkette, die ich zu allem tragen sollte, von

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