Die Wahrheit der letzten Stunde
Stirn gegen ihre. »Du verstehst nicht.«
Mariah blickt auf seine gequälten Züge, sieht aber vor ihrem geistigen Auge Ian neben seinem Zwilling sitzen und sich bemühen, die sonderbaren Regeln des Autisten zu befolgen, weil das besser ist als gar nichts. Ian irrt sich. Sie versteht ihn besser, als er glaubt.
»Ich würde es aber gerne verstehen«, sagt sie.
Ian Fletcher ist zweieinhalb Minuten früher geboren als sein Bruder: größer, kräftiger und aktiver als sein Zwilling, ein Umstand, für den er den Rest seines Lebens bezahlt hat. Ian hat offensichtlich im Mutterleib den Löwenanteil an Nahrung und Platz für sich beansprucht, und auch wenn kein Arzt je so etwas auch nur angedeutet hat, fühlt er sich verantwortlich für die schlechte Gesundheit und Entwicklung seines Bruders, vielleicht sogar für den Autismus, der bei Michael diagnostiziert wurde, als der noch ein Kleinkind war.
Ihre Eltern waren wohlhabende Jetsetter aus Atlanta, die spät geheiratet hatten und denen ihr Learjet, das restaurierte Herrenhaus auf der ehemaligen Plantage und die Ferienwohnung auf Grand Cayman immer wichtiger waren als ihre Zwillingssöhne. Ian und Michael waren ein Fehler gewesen, über den die Eltern nie sprachen, da unübersehbar mit einem der beiden Jungen etwas nicht stimmte. Sie lebten in Saus und Braus, reisten monatelang durch die Weltgeschichte und überließen Ian und Michael derweil der Obhut irgendeiner Erzieherin oder Kinderfrau, die zu diesem Zweck engagiert worden war. Ian wusste, dass er für Michael verantwortlich war, das wurde ihm klar, sobald er die Unterschiede zwischen ihnen begreifen konnte. Von Hauslehrern unterrichtet, wuchs Ian ohne Freunde und Spielkameraden auf. Das Einzige, was er hatte, was er immer gehabt hatte, war sein Bruder.
Als Ian zwölf war, kam der Anwalt seines Vaters eines Nachts mit dem Sheriff zu ihnen nach Hause. Das Flugzeug seiner Eltern war über den Alpen abgestürzt, und es hatte keine Überlebenden gegeben.
Über Nacht wurde alles anders. Ian erfuhr, dass der Lebensstil, den sie gewohnt waren, einen gewaltigen Schuldenberg angehäuft hatte, sodass die Jungen bankrott waren, bevor überhaupt an Erbschaft zu denken war. Ian und Michael wurden in die Obhut ihrer wenig begeisterten Tante mütterlicherseits und ihres bibelfesten Ehemannes gegeben und kamen so nach Kansas. Aber Tante und Onkel versuchten gar nicht, Michaels psychische Probleme zu verstehen, und sie verfügten nicht über die notwendigen Mittel, jemanden einzustellen, der ihnen diese Verantwortung abnahm. Der Staat wäre für eine adäquate Unterbringung Michaels überall in Kansas aufgekommen, aber niemand erkundigte sich nach den staatlichen Fördermitteln, und so wurde Michael in die nächstbeste Psychiatrie geschickt, in der ein Bett frei wurde, ein grässlicher Ort, der nach Fäkalien und Urin stank und an dem Michael der einzige Patient war, der überhaupt sprechen konnte.
Ian besuchte ihn weiter, auch nachdem seine Tante und sein Onkel ihre Besuche längst eingestellt hatten. Er ging in die Bibliothek und brachte in Erfahrung, welche Heime den besten Ruf genossen, aber niemand wollte auf ihn hören. Sechs Jahre lang fragte er sich, welches Grauen Michael durchmachen musste, dass er sich immer weiter zurückentwickelte, sich morgens nicht mehr anziehen wollte, sich immer öfter katatonisch wiegte und entschieden jede Berührung ablehnte.
An seinem und Michaels achtzehnten Geburtstag zog Ian einen Anzug an, den er in einem Secondhand-Shop erstanden hatte, und beantragte vor einem Gericht in Kansas City, dass ihm das Sorgerecht für seinen Bruder übertragen wurde. Er bekam ein Stipendium für die Kansas State und arbeitete rund um die Uhr, um seine Bücher zu bezahlen und Geld anzusparen. Er informierte sich umfassend über Wohngemeinschaften für autistische Erwachsene und sprach mit Ärzten, die ihm erklärten, Michael käme für ein solches Programm noch nicht infrage. Er erfuhr von Pflegeheimen, die sich aus Fördermitteln von Staat und Bund finanzierten und auch mittellose Patienten aufnahmen, wenn auch nur sehr wenige. Ian kam dahinter, dass man jemanden kennen musste, der zur rechten Zeit am rechten Ort war, wenn man keine Absage bekommen wollte. Er erfuhr, dass man, wenn man für eine gewisse Pflegequalität bezahlte, immer weiter bezahlen musste, weil sonst das Bett sofort einem anderen zugeteilt wurde.
Michael war der Motor von Ians beruflichem Ehrgeiz gewesen. Und der ging ganz natürlich
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