Die Wahrheit der letzten Stunde
gähnt sein Bruder und streckt sich.
»Was machst du so früh am Morgen hier?«, fragt Michael. Ian starrt ihn verdattert an. »Gibt es in deinem Leben keinen schöneren Ort, an dem du dich aufhalten könntest?«
Sein Bruder, der in den vergangenen drei Jahren keinen zusammenhängenden Satz mehr gesprochen hat, zieht ihn auf. Ian kneift die Augen zusammen und registriert die Wachheit, das Bewusstsein in den Augen seines Bruders. »Gott, Ian. Und da sagt man, du wärst der Klügere von uns beiden.« Michael breitet in einer einladenden Geste beide Arme aus.
»Michael«, haucht Ian und schließt seinen Zwilling in die Arme. Als Michael ihm auch noch linkisch auf den Rücken klopft, verschlägt es ihm vollends die Sprache.
Als er sich wieder einigermaßen in der Gewalt hat, rückt er leicht von Michael ab, um mit seinem Bruder zu reden, sich richtig mit ihm zu unterhalten, aber auf Michaels Gesicht liegt wieder ein abwesender Ausdruck. Ian sieht zu, wie er das Kartenspiel vom Nachttisch nimmt. »Karovier. Pikdrei. Karosieben. Ian kommt um halb vier am Dienstag. Nicht Montag Mittwoch Donnerstag …«
Wie vor den Kopf geschlagen, weicht Ian vom Bett zurück. Er verlässt Michaels Zimmer, bevor die Hölle losbricht, überzeugt, dass er sich diese surreale Begegnung nur eingebildet hat, dass sein Bruder die ganze Zeit nur geschlafen hat. Seufzend fischt Ian seine Wagenschlüssel aus der Brusttasche und findet dabei zu seiner Verblüffung eine Karte, den Herzbuben, den nur drei Minuten zuvor jemand dort hineingesteckt hat, der ihm nah genug war, um ihn zu umarmen.
KAPITEL 9
Geister können frei nach Wunsch jedes Geschlecht annehmen, sogar beide gleichzeitig.
John Milton Paradise Lost
DAS ERSTE MAL, als Colin mich geküsst hat, war ich im ersten Jahr auf dem College, saß in der verlassenen Sporthalle und konjugierte das französische Verb vou-loir. »Wollen«, hatte ich gesagt, woraufhin ich versuchte, mich auf die harte Tribüne zu konzentrieren, anstatt auf die Lichtreflexe auf Colins Gesicht.
Er war ganz einfach der attraktivste Junge, der mir je begegnet war. Er stammte aus dem Süden und aus einer alteingesessenen Familie. Und ich war ein jüdisches Mädchen aus einem Vorort. Sein Großvater war Professor in der Geschichtsfachschaft gewesen, während mein Studium über ein akademisches Stipendium finanziert wurde. Ich kannte seinen Namen von den Namenslisten der Spieler bei den samstäglichen Footballspielen: COLIN WHITE, Quarterback, 175 cm, 185 Pfund, HEIMATSTADT: VIENNA, VA. Ich trotzte der Kälte und meiner Ignoranz in Sachen Football, um ihn über das Grün jagen zu sehen wie die Nadel einer Meisterstickerin.
Aber er war für mich nur ein Tagtraum; unsere Welten lagen so weit auseinander, dass es schwierig, ja sogar lächerlich gewesen wäre, irgendwelche Gemeinsamkeiten finden zu wollen. Und doch, als der Trainer seines Teams sich an den Tutorendienst des Colleges wandte mit der Bitte um Französisch-Nachhilfe für Colin White, nutzte ich die Gelegenheit. Um dann drei Tage zu brauchen, ehe ich den Mut aufbrachte, ihn anzurufen und einen Termin zu vereinbaren.
Colin erwies sich als wahrer Gentleman, der mir immer den Stuhl zurechtrückte und die Tür aufhielt. Aber er war auch der schlechteste Französisch-Schüler, der mir je untergekommen war. Er verhunzte mit seinem Virginia-Akzent völlig die Sprachmelodie und stolperte schon über die elementarsten Grammatikregeln. Ich konnte ihm auch nur bedingt helfen, aber das störte mich nicht, bedeutete es doch, dass noch viele Stunden gemeinsamen Lernens vor uns lagen.
»Vouloir«, sagte ich an diesem Tag, »ist ein unregelmäßiges Verb.«
Colin schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht. Ich bin eben nicht so begabt wie du.«
Das war das schönste Kompliment, das man mir je gemacht hatte. Auch wenn ich in Colins sportlichem oder gesellschaftlichem Umfeld völlig fehl am Platz gewesen wäre, war ich hier ganz in meinem Element. »Je veux.« Ich seufzte. »Ich will.« Ich hielt ihm das Buch hin, um es ihm zu zeigen.
Er legte die Hand über meine, und ich verhielt mich mucksmäuschenstill. Ich wagte es nicht, ihm in die Augen zu sehen, und starrte somit wie gebannt in das Lehrbuch.
Aber ich konnte nicht umhin, die Hitze seines Körpers zu fühlen, als er sich näher zu mir beugte, das schabende Geräusch seiner Jeans zu hören, als er die Beine ausstreckte und mich gefangen nahm. Und dann sah ich nur noch sein Gesicht.
»Je veux«, murmelte
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