Die Wahrheit der letzten Stunde
Raum. Mariah ergreift Faith’ Hand und folgt ihm. Sie wirft noch einen Blick zurück. Sie sieht, wie Michael nach dem Kartenspiel greift und es beinahe zärtlich an die Brust drückt.
Draußen vor dem Aufenthaltsraum bleibt Ian stehen, schließt die Augen und holt mehrmals tief Luft. Jedes Mal, wenn Michael einen seiner Anfälle hat, zittert er selbst am ganzen Leib. Aber irgendwie ist es diesmal noch schlimmer.
Mariah und Faith kommen heraus und bleiben still neben ihm stehen. Er kann es kaum ertragen, sie anzusehen. »Soll das dein Wunder gewesen sein?«
Unbändiger Zorn durchströmt ihn wie ein Gift, das sich in seinem ganzen Organismus ausbreitet. Er weiß weder warum noch woher diese Wut rührt. Immerhin hat er genau diesen Ausgang erwartet.
Und doch hatte er sich einen anderen erhofft.
Der Gedanke trifft ihn unvorbereitet, zieht ihm den Boden unter den Füßen weg. Vor seinen Augen dreht sich alles, und er muss sich haltsuchend an die Wand lehnen. Der ganze Mist, den er Mariah gestern Abend aufgetischt hat, die vielen kleinen Zugeständnisse der vergangenen Woche, um ihnen weiszumachen, er fange an, Faith zu glauben … sie waren nicht nur gespielt gewesen. Auf professioneller Ebene mag Ian sich gewünscht haben, dass Faith heute versagt, aber auf persönlicher Ebene wollte er, dass es ihr gelingt, etwas zu bewirken.
Autismus ist eine Krankheit, die sich nicht mit einem Blick oder einer Berührung heilen lässt, das hat er die ganze Zeit gewusst. Faith White ist entgegen ihrer Behauptungen eine Betrügerin. Aber diesmal bereitet es ihm keine Genugtuung, wieder einmal Recht gehabt zu haben. Dieses kleine Mädchen, das alle getäuscht hat, hat Ian vor Augen geführt, dass er sich selbst etwas vorgemacht hat.
Mariah legt ihm zögernd eine Hand auf den Arm, aber er schüttelt sie ab. Wie Michael, denkt er, und fragt sich, ob sein Bruder vielleicht deshalb keine Berührung ertragen kann, weil er das unverhohlene ehrliche Mitleid nicht aushält. »Gehen Sie einfach«, knurrt er und lässt sie stehen. Als er den Ausgang erreicht, rennt er beinahe. Er hastet um das Gebäude herum auf die Rückseite von Lockwood, zu dem kleinen Teich mit dem Schwanenpaar. Dann reißt er das Mikrophon unter dem Revers hervor und nimmt den noch laufenden Recorder aus der Tasche. Mit aller Kraft wirft er beides so weit er kann ins Wasser.
Es ist fast halb vier, als Ian schließlich zur Hütte zurückkehrt. Mariah weiß ganz genau, wie spät es ist; sie ist die ganze Nacht wach geblieben und hat sich Sorgen gemacht. Nachdem er davongelaufen war, war Ian in dem Mietwagen weggefahren und hatte Mariah und Faith sich selbst überlassen. Nachdem das Taxi sie abgesetzt und der Wagen nicht vor der Hütte gestanden hatte, hatte Mariah angenommen, Ian würde bis zum Abendessen zurück sein. Es wurde neun. Mittemacht.
Sie hat den Wagen schon im Graben liegen sehen, um einen Baum gewickelt. Er war viel zu erregt gewesen, um Auto zu fahren. Erleichtert, dass ihm nichts passiert ist, geht sie rüber ins Wohnzimmer. Die Alkoholfahne steigt Mariah in die Nase, noch bevor sie Ian auf dem Sofa liegen sieht, das Hemd aufgeknöpft und eine Flasche Canadian Club beim Hals haltend. »Bitte, lassen Sie mich einfach in Ruhe.«
Mariah befeuchtet ihre Lippen. »Es tut mir so leid, Ian. Ich weiß auch nicht, warum Faith meiner Mutter helfen konnte, nicht aber Michael.«
»Ich werde Ihnen sagen, warum«, erwidert er gepresst. »Weil sie eine gottverdammte Betrügerin ist. Sie könnte nicht mal den geringsten Kratzer heilen, Mariah. Hören Sie endlich auf mit dem Theater, ja!«
»Das ist kein Theater.«
»Ist es doch. Das alles ist nur Schau.« Er schwenkt die Flasche und verschüttet dabei Schnaps auf die Sofakissen. »Ich selbst habe Ihnen etwas vorgemacht, seit ich Sie im Flugzeug gesehen habe, und die Vorstellung Ihrer Tochter ist wahrhaft oscarreif. Und was Sie betrifft, Sie …«
Er lehnt sich so weit zu ihr vor, dass sie den Canadian Club in seinem Atem schmecken kann. Sie zögert kurz, ehe sie sich vorbeugt und ihn küsst.
Es fängt ganz sachte an, ein leichtes Gleiten seiner Lippen über ihre. Sie legt ihm eine Hand auf den Hinterkopf und zieht ihn näher zu sich heran, küsst ihn leidenschaftlich, als wolle sie aus ihm heraussaugen, was ihn so quält.
Ian schluckt mehrmals, ehe seine Stimme ihm wieder gehorcht. »Wofür war denn das?«
»Ich spiele dir nichts vor, Ian.«
Ian umschließt ihr Gesicht mit beiden Händen und lehnt die
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