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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Frühstückszerealien, und er schließt methodisch die Tür hinter sich.
    Diesmal, sage ich mir, werde ich es nicht wieder zulassen. Ich verschränke die Hände auf dem Schoß, damit Ian nicht sehen kann, dass sie zittern. Er ist nicht Colin, und ich bin nicht mehr so naiv und hilflos wie damals.
    Plötzlich wird mir klar, warum ich Colin vor Jahren nicht verlassen konnte. Und mir wird klar, warum ich mich wieder mit einem Mann eingelassen habe, der mir zwangsläufig wehtun muss. Meiner Erfahrung nach hat Liebe wenig damit zu tun, jemanden haben zu wollen. Für mich ist es viel befriedigender, selbst begehrt zu werden.
    Ich bin aufgestanden, und Ian schließt mich wortlos in die Arme. Innerlich dreht sich mir alles. Er küsst mich nicht, streichelt mich nicht, tut nichts, außer mich festzuhalten, bis ich dem Bedürfnis nachgebe, die Augen zu schließen und ihm die Führung zu überlassen.
     
    Ian reicht Mariah sein Handy und blickt ihr nach, als sie nach nebenan ins Schlafzimmer geht, um ungestört ihre Mutter anzurufen. Er kann es ihr nicht verübeln. So wunderbar es auch ist, sie zu berühren, sind sie gewissermaßen immer noch Fremde. Er hat ihr noch nichts von seinem Besuch bei Michael am frühen Morgen erzählt; sie zieht es vor, bei ihrem Gespräch mit Millie allein zu sein.
    »Na«, sagt er zu Faith, »was hältst du von einer Partie Gin?«
    Sie blickt misstrauisch von ihrem Malbuch auf. Nun, auch das kann er akzeptieren. Das letzte Mal, als sie zusammen waren - in Lockwood —, hat er sie wütend angeknurrt. Er lächelt ein bisschen breiter, entschlossen, besonders nett zu sein, sei es nur Mariah zuliebe.
    Plötzlich steht Mariah in der Tür; sie ist kreidebleich im Gesicht. »Wir müssen heim«, sagt sie.
     
    Boston, Massachusetts
     
    Im Vatikan gibt es einen Kirchenbeauftragten, dessen alleinige Aufgabe darin besteht, Fälle zu prüfen, in denen jemand in den Stand der Heiligkeit erhoben werden soll. Er untersucht jede Tat, jedes geschriebene und jedes gesprochene Wort des mutmaßlich Heiligen und sucht nach dem einen Ausrutscher, einem Fluch, einem Abweichen vom Glauben, irgendetwas, das einer Heiligsprechung im Wege stünde. Beispielsweise könnte er den Umstand anführen, dass Mutter Teresa am 9. Juli 1947 die Abendandacht hat ausfallen lassen. Oder dass sie vergeblich den Herrn angerufen hat, als sie mit Fieber darniederlag. Die katholische Kirche hat sogar eine bestimmte Bezeichnung für dieses Amt: Glaubensprüfer oder, etwas respektloser formuliert, des Teufels Advokat.
    Vater Paul Rampini ist überzeugt davon, dass er der richtige Mann wäre für diesen Posten.
    Allerdings lebt er nicht in Rom. Und er ist kaum bedeutend genug, um für eine so verantwortungsvolle Aufgabe ausgewählt zu werden, da er erst sechzehn Jahre am Bostoner Priesterseminar unterrichtet. Und doch ist Vater Rampini schon manchem falschen Heiligen begegnet. Als einer der angesehensten Theologen im ganzen Nordosten, ist er schon des Öfteren konsultiert worden, wenn irgendwelche Visionäre anfingen, Behauptungen aufzustellen. Von den sechsundvierzig Fällen, die er untersucht hat, hat er dem Bischof gegenüber keinen einzigen positiv bewertet. Und die meisten dieser Scharlatane hatten auch nur das übliche Gerede von sich gegeben: leuchtende Erscheinungen von Maria, ein Kruzifix, das im Nebel über einem Tal erschienen war, Jesus, der den Menschen verkündete, dass der Tag des Jüngsten Gerichts nicht mehr fern war.
    Der Gedanke an einen weiblichen Gott gefällt Vater Rampini gar nicht.
    Er schaltet den Motor seines Honda an und klappt den Deckel seiner Aktentasche hoch. Das rosa Pamphlet der MotherGod Society liegt obenauf. Vater Rampini kann den Anblick des Flugblattes kaum ertragen. Es ist eine Sache, wenn jemand wie er - ein Priester, der an einem Seminar unterrichtet, ein Mann, der sein ganzes Leben der Theologie gewidmet hat - darüber befindet, ob ein anderer einen Funken Göttlichkeit in sich birgt. Aber es ist etwas völlig anderes, wenn ein siebenjähriges - und dazu noch jüdisches - Mädchen Gott zur Mutter erklärt.
    Es heißt, sie wäre eine Heilerin. Nun, das könnte er noch akzeptieren, entsprechende Beweise vorausgesetzt. Und dass sie Stigmata aufweist - nun, auch davon würde er sich gerne mit eigenen Augen überzeugen. Aber zu behaupten, Gott würde sie in eindeutig weiblicher Gestalt besuchen … das ist zweifellos gotteslästerlich.
    Vater Rampini wirft noch einen prüfenden Blick in den Rückspiegel,

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