Die Wahrheit der letzten Stunde
bevor er die Wagentür öffnet. Er klemmt sich die Ledertasche unter den Arm, steigt aus, streicht die Knopfleiste seines schwarzen Hemdes glatt und rückt seinen weißen Kragen zurecht.
Die Tür zum Pfarrhaus schwingt auf, und Vater MacReady erscheint auf der Schwelle. Einen flüchtigen Moment lang mustern sich die Männer abschätzig: Gemeindepfarrer und Seminarpriester, Beichtvater und Prüfer, Ire und Italiener. Vater MacReady tritt vor, sodass er die Türöffnung ausfüllt und den Besucher am Eintreten hindert.
Ebenso rasch tritt er wieder zurück. »Vater.« Er nickt. »Ich hoffe, Sie hatten eine gute Fahrt?«
»Bei Brattleboro hat es ein wenig geregnet«, sagt Paul, und die gegenseitige Antipathie weicht sogleich professioneller Höflichkeit.
»Kommen Sie doch herein«, fordert Vater MacReady ihn auf. »Kann ich Ihr Gepäck ausladen?«
»Nicht nötig. Ich glaube nicht, dass ich mich länger hier aufhalten werde.«
Das ist Vater MacReady neu. Auch wenn er nicht scharf darauf ist, sein Zuhause mit einem arroganten Schreibtischhengst und Schreiberling von St. Josephs zu teilen, ist ihm doch klar, dass es ein schlechtes Licht auf ihn werfen wird, wenn er sich mangelnder Gastfreundschaft schuldig macht. »Es macht keine Umstände.«
»Nein, natürlich nicht. Ich denke nur, dass ich diesen Fall in wenigen Stunden abgeschlossen haben werde.«
»Denken Sie, ja?« Vater Jospeh MacReady lacht. »Vielleicht sollten Sie erst einmal hereinkommen.«
Auf dem Heimflug von Kansas City sitzt Ian getrennt von Faith und mir, da wir keine Aufmerksamkeit erregen wollen dadurch, dass wir zusammen gesehen werden. Eine Stunde nach dem Start, als Faith ganz vertieft ist in den Bordfilm, schleiche ich zögern in die abgedunkelte Erste Klasse und setze mich neben ihn. Er greift über die Armstütze zwischen den Sitzen und drückt meine Hand. »Hi.«
»Hi.«
»Wie läuft’s da draußen?«
»Gut. Wir hatten Com Flakes zum Frühstück, und du?«
»Waffeln.«
»Oh«, entgegne ich nur höflich - alles in allem eine lächerliche Unterhaltung für zwei Menschen, die eine so leidenschaftliche Nacht hinter sich haben.
»Hast du über die Anhörung nachgedacht?«
Ich habe Ian alles erzählt, was meine Mutter mir berichtet hat: dass Joan Standish erfahren hat, dass Colin das Sorgerecht für Faith beantragt hat. »Was kann ich tun? Er wird angeben, dass Faith nicht ständig von Hunderten von Menschen umgeben sein sollte, die sich gegenseitig auf die Zehen treten, um sie zu photographieren und mit Fragen zu bombardieren, sobald sie das Haus verlässt. Wer würde dem widersprechen?«
»Du weißt hoffentlich, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um dir zu helfen«, sagt Ian, aber das weiß ich nicht, ganz und gar nicht. Jetzt, da wir wieder auf dem Heimweg sind, treten die Differenzen zwischen uns wieder deutlich zutage, ein Minenfeld, das es mir unmöglich macht, mich an die Traumlandschaft der vergangenen Nacht zu erinnern. Wenn wir das Flugzeug verlassen, werden Ian und ich zwangsweise auf zwei konträren Seiten einer sehr kontroversen Angelegenheit stehen.
Wir sitzen beide in brütendem Schweigen da. Dann greift Ian nach meiner Hand und dreht sie in der seinen, ehe er anfängt zu sprechen. »Ich muss dir etwas sagen, Mariah. Ich wollte, dass Faith versagt. Ich habe gedacht, du würdest von ihr verlangen, dass sie diese … Prophetenschau abzieht, aus Geltungssucht oder so was. Ich habe es bewusst darauf angelegt, deine Sympathie zu gewinnen, damit du mit ihr Michael besuchst.«
»Das hast du mir schon …«
»Lass mich bitte ausreden. Ich habe alles Erdenkliche gesagt und getan, um dich dazu zu bringen - sogar als ich behauptet habe, ich würde anfangen, an Faith’ Fähigkeiten zu glauben, war das Theater. Das war eine Lüge, nur eine mehr, um ganz sicherzugehen, dass du und Faith mich nach Lockwood begleiten würdet. Ich war an diesem Abend verdrahtet. Und als wir dann in Lockwood waren, habe ich das ganze verdammte Fiasko ebenfalls aufgezeichnet. Ich war entschlossen, der ganzen Welt zu zeigen, dass Faith’ angebliche Kräfte nur Betrug sind.«
Ich bin tief verletzt, und es kostet mich große Anstrengung, die Lippen zu bewegen. »Dann hast du ja jetzt die Beweise, die du brauchtest.«
»Nein. Nachdem Michael ausgerastet ist und mir klar wurde, dass Faith nicht in der Lage gewesen war, ein Wunder zu wirken, war ich wütend. Ich hatte meine Story, und es machte keinen großen Unterschied, wenn Michael
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