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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Feinstrick-Polos, die ich von ihm borgte, bis hin zu meinen eigenen Kord-Trägerkleidern. Ich tat alles, was er von mir verlangte, und noch mehr, so eifrig bemüht, eine WASP zu werden, wie mich auf jedem akademischen Gebiet zu bilden. Mir kam nie der Gedanke, dass Colin wichtiger sein könnte, was sich aus mir machen ließ, als was für ein Menschen ich bereits war. Ich sah damals nur, dass er sich für mich interessierte.
    Am Abend der Winterfeiern zog ich ein schlichtes schwarzes Kleid an, legte die Perlenkette um und trug sogar einen speziellen BH, der meine Oberweite künstlich aufpeppte. Wir würden den Abend bei Colins Bruderschaft verbringen, und ich war fest entschlossen, die Feuerprobe zu bestehen. Aber eine Viertelstunde vor der Zeit, zu der Colin mich abholen sollte, rief er an. »Ich bin krank, ich muss mich seit einer Stunde ständig übergeben.«
    »Ich komme gleich rüber«, sagte ich.
    »Nein, tu das nicht. Ich möchte einfach nur schlafen.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Mariah, es tut mir leid.«
    Mir nicht. Ich kannte mich nicht mit Bruderschafts-Partys aus, aber ich wusste, wie man einen Kranken pflegte. Ich stieg wieder in meine ausgebleichten Jeans und lief in die Stadt, wo ich im Supermarkt Hühnersuppe kaufte, frische Schnittblumen und ein Kreuzworträtselheft. Dann ging ich zu Colins Zimmer im Schlaftrakt.
    Er war nicht da.
    Ich ließ die noch dampfende Hühnersuppe auf der Türschwelle stehen und wanderte ziellos über den Campus. Hatte ich nicht tief im Innersten damit gerechnet? Hatte ich mir nicht selbst gesagt, dass es eines Tages dazu kommen würde? Schnee legte sich auf meine Schultern, als ich in die Fraternity Row einbog. Auf den Partys der Bruderschaften ging es hoch her, und Dampf, Gelächter und Alkoholgeruch drangen durch die offenen Fenster. Ich schlich auf die Rückseite von Colins Bruderschaftshaus, stieg auf eine Milchkiste und sah durch ein Fenster.
    Eine Gruppe von Footballspielern und ihre Begleiterinnen waren zu einem gordischen Knoten verschlungen. Schwarze Smokings verwoben mit leuchtenden Flecken bunten Satins auf einem Schoß oder um einen Hals. Colin war mir zugewandt und lachte über einen Witz, den ich nicht gehört hatte. Sein Arm war um die Taille einer bildhübschen Rothaarigen gelegt. Ich starrte so lange auf die Szene, dass ich nicht gleich registrierte, dass Colin zurückstarrte.
    Er folgte mir quer über den ganzen Campus bis zu meinem Zimmer. »Mariah! Lass mich erklären!«
    Ich riss die Tür auf. »Du warst krank«, sagte ich.
    »Das stimmt auch! Ich schwöre es!« Seine Stimme klang jetzt tief und weich. »Als ich aufgewacht bin, habe ich versucht, dich anzurufen, aber du warst nicht da. Die Jungs kamen vorbei und überredeten mich, auf einen Sprung mit rüberzukommen. Annette … sie bedeutet mir nichts. Sie war einfach da.«
    War ich auch nichts? War ich auch jemand, der einfach da war?
    Colin umfasste mit beiden Händen mein Gesicht. »Aber ich habe sie stehen lassen, um zu dir zu kommen«, sagte er, meine Gedanken lesend. Sein Atem streifte meinen Mund, eine seltsame Mischung aus Pfefferminz und Scotch, und ich erinnerte mich, wie Colin mir beschrieben hatte, wie er die Pferde beruhigte, mit denen er in Virginia arbeitete - indem er ihnen in die Nüstern blies, damit sie sich nicht vor seinem Geruch fürchteten.
    »Colin«, sagte ich leise, »warum ich?«
    »Weil du anders bist als sie. Du bist klüger, besser und, ich weiß auch nicht, ich denke einfach, dass vielleicht, wenn ich lange genug mit dir zusammen bin, etwas davon auf mich abfärbt, damit ich mich auch von den anderen abhebe.«
    Das war eine wirklich verblüffende Vorstellung. Irgendwie hatte Colin eine völlig neue Erklärung gefunden dafür, dass ich nie richtig dazu gehörte: nicht etwa, weil ich nicht gut genug gewesen wäre, sondern weil ich nur abwartete, dass andere sich um mich scharten. Ich lehnte mich vor und küsste ihn.
    Später, als wir ausgezogen waren und Colin über mich gebeugt war wie ein großer Vogel, der die Sonne verdeckte, fragte er: »Bist du auch sicher, dass du das willst?«
    Ich war nicht nur sicher, ich hatte mein ganzes Leben auf dieses erste Mal mit einem Mann gewartet, der mich besser kannte als ich mich selbst. Ich nickte, streckte die Hände nach ihm aus und erwartete, dass etwas Magisches geschah.
     
    Als Ian die Hütte betritt, erstarren wir im ersten Moment beide. Dann lege ich sehr akribisch meinen Löffel neben meine Schüssel mit den

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