Die Wahrheit der letzten Stunde
der Sound zu gewaltig für den kleinen Raum und dringt oft nach draußen auf den Flur oder durch die Mauern. Den meisten Leuten macht das nichts aus. Eigentlich verleiht es dem Gericht Charakter, etwas, woran es dem gedrungenen, unscheinbaren Gebäude mitten im Nichts ansonsten eher mangelt.
Heute hat Richter Rothbottam Evita aufgelegt, bevor er sich an seinen Schreibtisch gesetzt hat. Er schließt die Augen, dirigiert mit ausholenden Gesten und summt so laut mit, dass er bis draußen auf den Flur zu hören ist.
»Euer Ehren.«
Die schüchterne Stimme stört Rothbottams Auftritt als Dirigent, und der Richter runzelt unwillig die Stirn. Er drückt einen Knopf seiner Gegensprechanlage, und die Musik wird leiser. »Was gibt’s, McCarthy? Ich hoffe für Sie, dass Sie einen wichtigen Grund haben, mich zu stören.«
Der Gerichtsdiener zittert. Jeder weiß, wenn Richter Rothbottam seine Originalaufnahme auflegt, will er nicht gestört werden. Das hat irgendetwas mit der Heiligkeit der Musik zu tun, wie er sich ausdrückt. Andererseits ist ein Eilantrag nun einmal ein Eilantrag. Und Malcolm Metz ist ein zu berühmter Anwalt, als dass er sich von einem einfachen Gerichtsdiener am County-Gericht hinhalten ließe.
»Ich bedaure es wirklich außerordentlich, Sie stören zu müssen, Euer Ehren. Aber Mr. Metz hat schon dreimal angerufen wegen seines Eilantrags.«
»Wissen Sie, was Sie ihm bestellen können, das er mit seinem Eilantrag machen kann, wenn er wieder anruft?«
McCarthy schluckt. »Ich kann es mir denken, Euer Ehren. Darf ich das als Abweisung der Klage deuten?«
Mit grimmigem Gesicht greift Rothbottam unter seinen Schreibtisch, und die wunderbare Stimme von Patti LuPone verstummt abrupt auf der Höhe eines hohen C. Der Richter ist Malcolm Metz nie begegnet, aber jeder, der irgendwie mit der Jurisprudenz im Staate New Hampshire zu tun hat, müsste blind, taub und blöd sein, um noch nie etwas von dem Anwalt gehört zu haben. Metz ist ein hochbezahltes, überaus erfolgreiches Mitglied einer Kanzlei aus Manchester, dem es gelungen ist, im Laufe seiner Karriere immer wieder gerade die Fälle an Land zu ziehen, die für Wirbel in den Medien sorgten: der Kampf um das Sorgerecht für Baby J, der in einem hässlichen Gerichtsstreit zwischen einer Leihmutter und einer Adoptivfamilie ausgeartet war, der Prozess wegen sexueller Nötigung, den die Sekretärin gegen ihren Boss gewonnen hatte, der immerhin Senator war, das aktuelle Fiasko der Trennung eines Mafia-Paten und seiner Frau. Rothbottam hat nichts übrig für große Auftritte; die überlässt er Theaterschauspielern auf der Bühne. Wenn sein Gerichtssaal schon von einem Arschloch wie Metz heimgesucht werden soll, hat der Anwalt sich gefälligst nach seinen Regeln zu richten.
»Einen Augenblick bitte«, sagt Rothbottam zum Gerichtsdiener. Er blättert den Sorgerechtsantrag durch, den Metz an diesem Morgen eingereicht hat, sowie den anhängigen einseitigen Antrag auf Anberaumung einer Anhörung. Metz zufolge befindet sich das Kind in akuter Gefahr und muss unbedingt unverzüglich der Obhut der Mutter entzogen werden; der einseitige Antrag ist notwendig, damit der Fall anläuft, bevor der Beklagte überhaupt Wind davon bekommt, dass ein Sorgerechtsantrag gestellt wurde.
Genau die Art gequirlte Scheiße, die er von einem Malcolm Metz erwartet hat.
Rothbottam überfliegt das Mandat. White gegen White. Er hat erst vor einem Monat die Scheidung verfügt, und damals gab es noch keinen Disput um das Sorgerecht. Was zum Teufel ist da los?
Ihm wird erst bewusst, dass er laut gesprochen hat, als er McCarty über die Gegensprechanlage hört. »Das ist dieses Mädchen, Euer Ehren. Die Kleine, die in den Nachrichten war.«
»Was für ein Mädchen?«
»Der Vater beantragt das Sorgerecht für Faith White.«
Die Siebenjährige, die Tote zum Leben erweckt, mit Gott spricht und Stigmata aufweist. Rothbottam stöhnt. Kein Wunder, dass Metz sich dazu herablässt, persönlich nach New Canaan zu kommen. »Wissen Sie, ich kenne Metz nicht. Und ich will ihn auch nicht kennen lernen, wenngleich mir dieses Glück wohl nicht beschieden sein wird. Aber ich kenne Joan Standish, die die Mutter bei der Scheidung vertreten hat. Rufen Sie Metz an und bestellen ihm, dass er um fünfzehn Uhr hier sein soll. Teilen Sie ihm mit, dass Joan und ihre Klientin ebenfalls anwesend sein werden. Ich werde mir anhören, weshalb das Kind sich seiner Ansicht nach in akuter Gefahr befindet, und dann werden
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