Die Wahrheit der letzten Stunde

in seiner Traumwelt blieb. Ich habe dich angelogen, Mariah, aber ich habe auch mich selbst belogen. Ich wollte nicht, dass Faith eine Betrügerin ist, nicht, als es um meinen Bruder ging.« Er sieht mich an. »Ich habe das Band in den Teich im Park von Lockwood geworfen.«
    Ich blicke auf meinen Schoß; eine Frage lässt mich nicht los. Ich muss es wissen, ich muss einfach. »Letzte Nacht… Hast du mich da auch angelogen?«
    Ian hebt das Kinn. »Nein. Auch wenn du sonst nichts glaubst, das ich dir gesagt habe, das eine ist die reine Wahrheit gewesen.«
    Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich die Luft angehalten habe. Ich atme aus und rücke von ihm ab. »Ich möchte dich nur um einen einzigen Gefallen bitten. Würdest du mit deiner Sendung bis nach der Anhörung warten?«
    »Ich werde nicht in meiner Sendung erklären, Faith sei nicht in der Lage gewesen, ein Wunder zu bewirken.«
    Er spricht sehr leise, und erst jetzt geht mir etwas auf, das ich bisher übersehen habe: Jede Bezugnahme auf Faith würde auch Ians eigenen Bruder ins Licht der Öffentlichkeit rücken. »Du willst nicht, dass jemand von Michael erfährt.«
    »Das ist nicht der Grund. Der Grund ist… Faith hat ein Wunder bewirkt.«
    Damit habe ich nicht gerechnet. Völlig verdattert lehne ich mich in meinem Sitz zurück. »Das hat sie nicht. Ich war doch dabei. Ich habe selbst gesehen, wie du den Raum verlassen hast.«
    »Ich bin heute morgen noch einmal hingefahren. Michael und ich haben uns ganz normal unterhalten. Er hat mich aufgezogen. Und er hat mich umarmt.«
    »O Ian.«
    »Es dauerte nicht lange, und zuerst dachte ich, ich hätte alles nur geträumt. Aber das habe ich nicht. Es hat diese eine Minute des Verstehens zwischen uns gegeben, Mariah. Eine Minute in fünfundzwanzig Jahren.« Er lächelt traurig. »Und was für eine Minute.« Seine Züge entspannen sich, als er sich mir zuwendet. »Das ist keine typische Eigenart bei Autismus. Der Zustand ist anhaltend und tritt keineswegs nur sporadisch auf, lässt sich nicht an- und ausknipsen. Michael ist auch an guten Tagen immer … abgekapselt gewesen von seiner Umwelt. Heute Morgen war er der Bruder, den ich mir immer gewünscht habe - und das übersteigt die Möglichkeiten der modernen Wissenschaft. Ich kann dir nicht sagen, dass ich an Gott glaube. Aber, Mariah … ich glaube ohne den geringsten Zweifel an Faith’ Heilkräfte.«
    Die Rädchen in meinem Kopf drehen sich. Ich stelle mir vor, wie Ian bei uns im Garten vor die versammelte Presse tritt, die förmlich an seinen Lippen klebt. Ich male mir aus, wie die Hölle losbricht, wenn Ian, der größte Zweifler von allen, verkündet, dass Faith ihn überzeugt hat.
    Sie werden Faith nie wieder in Frieden lassen.
    »Lüge«, sage ich hastig. »Sag allen, Faith habe versagt.«
    »Ich lüge nicht. Das ist das Leitmotiv der ganzen Show.«
    Jetzt bin ich den Tränen nah. »Du musst lügen. Du musst.«
    Ian nimmt meine Hand, hebt sie an die Lippen und küsst jeden einzelnen Finger. »Pssst. Beruhige dich. Wir werden einen Weg finden.«
    »Wir?« entgegne ich kopfschüttelnd. »Ian, es gibt kein >wir<. Es gibt dich und deine Show auf der einen Seite, und auf der anderen Seite mich und das Sorgerechtsverfahren. Wenn der eine von uns gewinnt, muss der andere zwangsläufig verlieren.«
    Er zieht meinen Kopf an seine Schulter und redet in beschwichtigendem Tonfall auf mich ein. »Schhhht. Lass uns so tun, als wären wir schon sechs Monate weiter. Ich kenne bereits den Namen der Highschool, die du besucht hast, kenne deinen Lieblingszwerg von Disney und weiß, wie du deinen Kaffee trinkst.«
    Ich lächle zögernd. »Und an den Samstagabenden sitzen wir daheim vor dem Fernseher und schauen uns Videos an.«
    »Und ich frühstücke in meinen Boxershorts. Und ich darf dich ungeschminkt sehen.«
    »Das hast du doch schon.«
    »Siehst du?« Ian fährt mit den Lippen über meine Stirn und vertreibt die Sorgen. »Die halbe Strecke liegt schon hinter uns.«
     
    Haverhill, New Hampshire
     
    Warren Rothbottam mag seine Showmusik. Er mag sie sogar so sehr, dass er aus eigener Tasche für die Neuausstattung seines Richterzimmers im Grafton County Superior Court mit einem brandneuen Stereosystem aufgekommen ist, mit raffiniert versteckten Bose-Lautsprechem, die den Eindruck erwecken, Carol Channings kräftige Stimme käme aus der ordentlichen Reihe von juristischen Nachschlagewerken, in denen Prozesse aus dem ganzen Staat New Hampshire aufgeführt sind. Allerdings ist