Die Wahrheit der letzten Stunde
überhaupt nicht weh. Tatsächlich ist es sogar angenehm. »Ja«, wimmert Faith. »Au!«
Ihre Mutter schlüpft zu ihr unter die Bettdecke und schließt Faith in die Arme. »Versuch, wieder einzuschlafen«, sagt sie und schließt die Augen.
Mit einem Lächeln auf den Lippen schläft Faith wieder ein.
28. Oktober 1999
Ihre Mutter muss wahre Fressorgien veranstaltet haben.
Das ist die einzige Erklärung, die Mariah dafür einfällt, dass im ganzen Haus nichts Essbares zu finden ist. Nach einwöchiger Abwesenheit hatte sie wohl damit gerechnet, dass Obst und Milch verdorben sein würden, aber es ist auch kein Brot mehr da, und das Glas Erdnussbutter ist leer. »Himmel, Ma«, sagt sie, als Faith sich eine Schüssel trockener Rice Crispies nimmt. »Hast du eine Party geschmissen?«
Millie schnaubt beleidigt. »Ist das der Dank dafür, dass ich in deiner Abwesenheit das Haus gehütet habe?«
»Ich hätte schon erwartet, dass du ein paar Kleinigkeiten einkaufst. Sei es für dich selbst.«
Millie verdreht die Augen. »Ach ja, und die Aasgeier da draußen hätten mich höflich vorbeigewunken und mir gute Fahrt gewünscht.«
»Wenn sie dich bedrängt hätten, hättest du ihnen eben Bescheid sagen müssen.« Mariah schnappt sich ihre Handtasche und steuert die Tür an. »Ich bin bald zurück.«
Aber den Reportern zu entkommen ist nicht so leicht, wie Mariah erwartet hat. Als sie im Schritttempo aus der Auffahrt rollt, fährt sie beinahe einen Mann an, der den Rollstuhl seiner Tochter vor ihr Auto schiebt. Trotz des Polizeischutzes betatschen Hunderte von Händen Fensterscheiben, Stoßstangen und Kofferraumdeckel. »Mein Gott«, haucht Mariah, überwältigt von der unglaublichen Zahl von Menschen, und gibt einen halben Kilometer hinter ihrer Zufahrt erleichtert Gas.
Sie hatte geglaubt, dass ohne Faith die Wahrscheinlichkeit geringer war, verfolgt zu werden, aber drei Autos fahren bis zum Supermarkt im Nachbarort hinter ihr her. Mariah behält ihre Verfolger im Auge und wählt bewusst Seitenstraßen, in der Hoffnung, sie unterwegs abzuschütteln. Zwei der Verfolger sind nicht mehr zu sehen, als sie New Canaan hinter sich lässt. Der dritte Wagen folgt ihr auf den Parkplatz, fährt aber dann in eine andere Richtung. Beschämt erkennt Mariah, dass es sich wohl nur um einen Nachbarn oder ganz gewöhnlichen Bürger handelt und nicht um einen Reporter.
Im Supermarkt hält sie den Kopf gesenkt und packt Melonen, Salat und englische Muffins in ihren Einkaufswagen, wobei sie es bewusst vermeidet, die anderen Kunden des Ladens anzusehen. Grimmig entschlossen biegt sie um eine Ecke, sie hat sich vorgenommen, es unerkannt bis an die Kasse zu schaffen. Aber sie hat gerade in eine Tiefkühltruhe gegriffen, als eine Hand sich um ihr Handgelenk schließt und sie hinter eine Werbetafel für Eiswaffeln zieht.
»Ian.«
Er trägt Jeans und ein verknittertes Flanellhemd und hat sich eine Baseballmütze tief in die Stirn gezogen. Er ist unrasiert. Mariah berührt seine Wange. »Ist das deine Verkleidung?«
Seine Hand gleitet von ihrem Handgelenk zu ihrer Schulter. »Ich wollte wissen, wie es beim Richter gelaufen ist.«
Ein kleines Licht in ihrem Inneren erlischt. »Ach so.«
»Und ich wollte dich sehen.« Ians Finger gleiten über die samtige Haut auf der Innenseite ihres Arms. »Ich musste einfach.«
Sie blickt zu ihm auf. »Der Sorgerechtsprozess beginnt in fünf Wochen.« Sie kann unter dem Mützenschirm gerade noch seine Augen sehen, eisblau und seltsam stechend nageln sie sie fest, dass sie sich vorkommt wie ein Schmetterling in einem Schaukasten.
Eine Kundin biegt um die Ecke, kleine Zwillinge wie Fender rechts und links von ihrem Einkaufswagen. Sie wirft Mariah und Ian nur einen flüchtigen Blick zu und setzt ihren Weg fort. »Wir können hier nicht bleiben«, sagt Ian. »Früher oder später wird man einen von uns erkennen.« Aber er macht keine Anstalten zu gehen, sondern legt ihr stattdessen die Finger unter das Kinn, woraufhin sie den Hals reckt wie eine zufriedene Katze.
Dann tritt er abrupt zurück. »Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen, dass Faith bei dir bleibt.«
»Der Richter wird sie mir nur lassen, wenn er der Meinung ist, ich könnte ihr ein ganz normales Leben bieten«, entgegnet sie ruhig. »Es ist also das Beste, wenn du dich nicht einmischst.« Sie gestattet sich noch einen letzten Blick auf ihn, eine letzte Berührung seiner Hand. »Das Beste für Faith, das
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