Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
ausgedacht haben«, entgegnet Mariah, aber sie weiß, dass sie damit versucht, ebenso sich selbst wie Millie zu überzeugen. Welches Gericht würde schon sie zum geeigneteren Elternteil bestimmen?
    Vielleicht hat Colin ja Recht - vielleicht ist es ihre Schuld. Sie hat früher schon falsche Entscheidungen getroffen, was Faith anbelangt, und das hier könnte nur ein weiterer Beweis für ihre Unzulänglichkeit als Mutter sein: eine überhastete Entscheidung, ein egoistischer Zug, ein Gespräch, das in Faith’ Phantasie begonnen und sie alle bis hierher geführt hat. Immerhin hat es Zeiten gegeben, da Colin Mariahs Urteilsfähigkeit zu Recht infrage gestellt hat.
    »O nein, das wirst du nicht tun«, schimpft Millie und zieht Mariah auf die Füße. »Du gehst nach oben und wäschst dir diesen Ausdruck vom Gesicht.«
    »Was …«
    »Nimm eine heiße Dusche. Mach den Kopf frei. Ich habe schon früher erlebt, wie du diesen Prozess durchgemacht hast, wie du dich gefragt hast, ob du auch nur so viel Verstand hast, wie einem Käfer von Gott gegeben wurde, ob du als Mutter kompetent genug bist. Ich weiß nicht, wie Colin das immer wieder schafft, aber dieser Mann ist ein Hypnotiseur, was deinen Verstand anbelangt.« Sie schiebt Mariah die Treppe hinauf, als Faith mit ihrer Brille zurückkommt. »O gut«, sagt Millie. »Lass uns mal sehen, ob wir ein paar Comics finden können.«
    Sich Faith’ Blick bewusst, lächelt Mariah tapfer weiter, während sie Schritt für Schritt nach oben geht. Ganz gezielt verdrängt sie die Gedanken, die auf sie einstürmen: was Joan vor Gericht sagen wird, was der Richter von Mariahs übereilter Flucht nach Kansas City halten wird, was Ian tun oder sagen wird, jetzt da sie wieder zurück sind. Sie zieht sich aus und dreht die Dusche auf, sodass sich weißer Dampf im Bad ausbreitet. In der Duschkabine prasselt das Wasser hart und heiß auf sie nieder, aber Mariah kann das Zittern immer noch nicht abstellen. Wie der Überlebenden eines schweren Unfalls wird ihr jetzt erst bewusst, wie knapp sie davongekommen ist, und sie ist abwechselnd zu Tode erschrocken und bass erstaunt. Was, wenn man ihr in fünf Wochen ihre Tochter wegnimmt? Was, wenn Colin wieder einmal seinen Willen durchsetzt? Mariah lässt sich auf den gefliesten Boden sinken, schlingt die Arme um ihre Mitte und bricht in Tränen aus.
     
    Nachdem sie Faith gebadet und zu Bett gebracht hat, geht Mariah hinunter ins Wohnzimmer, wo Millie den Vorhang ein wenig zur Seite gezogen hat, um nach draußen zu sehen. »Wie auf Yasgurs Farm«, murmelt sie, als sie Mariah hinter sich eintreten hört. »Sieh dir nur das Feld an. Man sieht überall diese kleinen flackernden Lichter … Was haben sie eigentlich damals hoch gehalten - Kerzen?«
    »Feuerzeuge. Und was weißt du schon von Woodstock?«
    Millie wendet sich ihr lächelnd zu. »Unterschätz deine Mutter nicht.« Sie greift nach Mariahs Hand und drückt sie. »Fühlst du dich schon etwas besser?«
    Bei der fürsorglichen Frage ihrer Mutter verliert Mariah fast wieder die Fassung. Sie folgt ihrer Mutter zur Couch und bettet den Kopf auf ihren Schoß. Millie streicht ihr zärtlich das Haar aus der Stirn, und sie fühlt, wie die Anspannung langsam nachlässt und einige ihrer Probleme in den Hintergrund rücken. »Ich würde nicht unbedingt sagen, dass ich mich besser fühle. Vielmehr wie betäubt.«
    Millie fährt fort, ihr über das Haar zu streichen. »Faith scheint ganz gut klarzukommen.«
    »Ich weiß nicht, ob sie versteht, was vor sich geht.« Hierauf folgt ein Augenblick der Stille. »Da ist sie nicht die Einzige.«
    Mariah setzt sich errötend auf. »Wie meinst du das?«
    »Wann wirst du mir endlich den Rest erzählen?«
    »Ich habe dir bereits alles erzählt, was bei der Anhörung passiert ist.«
    Millie klemmt Mariah eine Strähne hinter das Ohr. »Weißt du, du machst ein so schuldbewusstes Gesicht wie damals, als du zwei Stunden länger als vereinbart mit Billy Flaherty aus warst.«
    »Wir hatten eine Reifenpanne. Das habe ich dir schon vor fast zwanzig Jahren gesagt.«
    »Und ich glaube es immer noch nicht. Gott, ich weiß noch, wie ich hellwach im Bett gesessen, die Uhr angestarrt und mir Sorgen gemacht habe. Was um alles in der Welt findet Mariah an ihm mit seiner brütenden launischen Art?«
    »Er war erst sechzehn, sein Vater war Alkoholiker, und seine Eltern steckten mitten in der Scheidung. Er brauchte jemanden, mit dem er reden konnte.«
    »Und dann«, fährt Millie fort, als

Weitere Kostenlose Bücher