Die Wahrheit der letzten Stunde
hätte Mariah gar nichts gesagt, »habe ich letztens wieder wach im Bett gesessen und mich gefragt, warum um alles in der Welt wohnt Mariah bei Ian Fletcher? Und dann kommst du nach Hause und machst wieder das gleiche Gesicht wie damals.«
Mariah wendet sich ab. »Ich mache gar kein Gesicht.«
»O doch. Und es bedeutet, dass es bereits zu spät ist, als dass ich das Schlimmste noch verhüten könnte.« Sie wartet, bis Mariah sich ihr wieder zuwendet, ganz langsam und reserviert. »Also, sag mir«, fordert Millie sie sanft auf, »wie hart bist du gelandet?«
Eine innere Ruhe überkommt Mariah, als ihr klar wird, dass ihre Mutter nicht mehr erspüren kann als sie selbst. Die vielen Male, die sie mitten in der Nacht aufgewacht ist, einen Sekundenbruchteil bevor Faith anfing zu schreien, die vielen Male, die sie in das Gesicht ihrer Tochter geschaut und mit einem Blick eine Lüge durchschaut hat. Das geht mit dem Muttersein einher: Ob es einem passt oder nicht, man entwickelt einen sechsten Sinn für die eigenen Kinder - spürt körperlich ihre Freude, ihren Frust und den stechenden Schmerz in der Herzgegend, wenn ihnen jemand wehtut.
»Vor allem schnell«, seufzt Mariah. »Und mit offenen Augen.«
Als Millie die Arme ausbreitet, tritt Mariah zwischen sie und genießt mit einem Gefühl der Befreiung die Geborgenheit, die sie an ihre Kindheit erinnert. Sie erzählt ihrer Mutter von Ian, der sie entgegen ihrer Annahme anfangs gar nicht verfolgt hat, der sich als ein völlig anderer Mensch erwiesen hat als der, der er zu sein vorgab. Sie beschreibt ihr, wie sie zusammen auf der Veranda gesessen haben, als Faith schlief, wie sie manchmal geredet und manchmal auch einfach nur dagesessen haben, während es um sie herum Nacht wurde. Sie verschweigt Millie Ians Bruder und was Faith möglicherweise für ihn getan hat. Sie erwähnt auch nicht, was es für ein Gefühl war .
Ians Körper zu spüren, die Hitze, die sie von Kopf bis Fuß durchströmt hat, dass er auch im Schlaf ihre Hand gehalten hat, als könne er es nicht ertragen, sie loszulassen.
Es spricht für Millie, dass sie sich weder Überraschung anmerken lässt noch fragt, ob sie wirklich von ein und demselben Ian Fletcher sprechen. Stattdessen drückt sie Mariah fest an sich und nimmt ihre Erklärungen urteilsfrei zur Kenntnis. »Wenn das alles zwischen euch passiert ist«, sagt sie schließlich vorsichtig, »wie ist dann der Stand der Dinge?«
Mariah blickt durch die Gardinen auf die Lichter, die vorhin die Aufmerksamkeit ihrer Mutter erregt haben. »Er ist da draußen, und ich bin hier drin«, entgegnet sie mit einem traurigen Lächeln. »Wie gehabt.«
Manchmal, mitten in der Nacht, glaubt Faith zu hören, wie sich unter ihrem Bett etwas bewegt, eine Schlange, ein Meeresungeheuer oder das Trippeln winziger krallenbewehrter Rattenfüße. Dann würde sie am liebsten die Bettdecke zurückschlagen und rüber zu ihrer Mutter laufen, aber dafür müsste sie den Boden berühren, und dann wäre die Wahrscheinlichkeit groß, dass das, was dieses unheimliche Geräusch verursacht, sie mit seiner Reihe scharfer Zähne packt und verschlingt, noch bevor sie es auf den Flur geschafft hat.
Heute Nacht, als Faith aufwacht, ist sie überzeugt davon, dass das Ungeheuer gekommen ist, um sie zu holen, und sie schreit.
Ihre Mutter kommt ins Zimmer gelaufen. »Was ist passiert?«
»Sie beißen mich!«, schreit sie. »Die Monster, die unter dem Bett wohnen!« Aber noch während sie spricht, holt die Wirklichkeit sie wieder ein, und seltsame schwarze Schatten verwandeln sich wieder in Lampen, Kommoden und andere ganz gewöhnliche Gegenstände. Sie senkt den Blick auf ihre Hände, die immer noch in die Bettdecke gekrallt sind, Pflaster über den kleinen Löchern unterhalb der Fingerknöchel. Sie tun jetzt überhaupt nicht mehr weh. Und sie bluten auch nicht mehr. Sie kribbeln etwas, so als würde ein Hund seine nasse Nase gegen die Handflächen drücken.
»Alles okay mit dir?«
Faith nickt.
»Dann lege ich mich wieder hin.«
Aber Faith möchte nicht, dass ihre Mutter geht. Sie möchte, dass sie sich zu ihr auf die Bettkante setzt und an nichts anderes denkt als an Faith. »Autsch!«, ruft sie impulsiv aus und umklammert ihre linke Hand.
Sofort dreht ihre Mutter sich wieder zu ihr um. »Was? Was ist?«
»Meine Hand tut weh«, lügt Faith. »Ganz stark. Ein Stechen wie von einer großen Nadel.«
»Hier?«, fragt ihre Mutter und tastet behutsam ihre Hand ab.
Es tut
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