Die Wahrheit der letzten Stunde
Schlechteste für mich.« Hierauf legt sie beide Hände auf den Griff ihres Einkaufswagens und schiebt ihn vor sich her den Gang hinunter. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals, aber ihr Gesicht ist nach außen hin so ausdruckslos, als wären sie sich nie begegnet.
Das Telefon läutet, als Mariah kurz davor ist, einzuschlafen. Müde und benommen greift sie nach dem Hörer. Sie geht davon aus, dass es Ian ist, und da wird ihr bewusst, dass er auch im wachen Zustand bereits einen Teil ihrer Gedanken für sich beansprucht.
»Es freut mich, dass Sie überhaupt noch ans Telefon gehen.«
»Vater MacReady«, sagt Mariah und setzt sich im Bett auf. »Ist es nicht schon etwas spät?« Er lacht. »Spät wofür?«
»Für einen Anruf.«
Hierauf folgt eine kurze Pause. »Ich bin mit den Jahren zu dem Schluss gelangt, dass es nie zu spät ist. Manchmal holen die Dinge einen ganz plötzlich ein und reißen einem die Füße unter dem Körper weg.«
Mariah setzt sich auf. »Sie drehen mir wieder die Worte im Mund herum.«
»Ich habe für Sie gebetet. Ich hoffe, es nützt etwas«, gibt Vater MacReady zu. »Ich habe gebetet, dass es Ihnen gelingt, sich mit Faith abzusetzen.«
»Ihr heißer Draht ist offenbar ein wenig rostig.«
»Mag sein. Genau darum wollte ich ja auch mit Ihnen sprechen. Ihre Mutter hatte das Vergnügen, heute einen Kollegen von mir abzuweisen, der sich Faith gerne ansehen würde.«
»Meine Tochter ist kein Versuchskaninchen der katholischen Kirche, Vater«, entgegnet Mariah verbittert. »Sagen Sie Ihrem Kollegen, er soll dorthin zurückgehen, wo er hergekommen ist.«
»Diese Entscheidung liegt nicht bei mir. Es ist sein Job. Wenn Faith Dinge behauptet, die sich nicht mit den zweitausendjährigen Lehren decken, müssen sie sich ein Bild machen.«
Das erinnert Mariah an ein altes Sprichwort: Wenn im Wald ein Baum umstürzt und niemand da ist, der es hört, verursacht er dann überhaupt ein Geräusch? Wenn man keine Religion will, hat man dann nicht das Recht, sie wegzuschicken?
»Ich weiß, dass Sie das nicht hören wollen«, sagt Vater MacReady, »aber ich würde es als ein persönliches Entgegenkommen Ihrerseits werten, wenn Sie Faith erlauben würden, mit Vater Rampini zu sprechen.«
In eben diesem Moment campieren Menschen vor ihrem Grundstück, die sich dort im Namen der Christenheit versammelt haben. Sie hat sie nicht hergebeten, und es wäre ihr nur recht, wenn sie wieder verschwänden.
Der Richter würde es ihr sicher anrechnen, wenn es ihr gelänge, den Menschenauflauf vor dem Haus aufzulösen.
Und der einfachste Weg, das zu erreichen, besteht darin, direkt von der Kirche zu hören, dass Faith nicht die ist, für die sie sie halten.
Andererseits bedeutet es, Faith in gewisser Weise bloßzustellen, und Mariah ist sich nicht sicher, ob sie das möchte, auch wenn es mittelfristig für sie alle von Vorteil wäre. »Faith und ich sind Ihnen keinen Gefallen schuldig. Wir sind nicht katholisch.«
»Technisch gesehen war Jesus das auch nicht«, entgegnet Vater MacReady.
Mariah lässt sich auf das Kopfkissen zurücksinken und fühlt, wie der Bezug rechts und links ihre Wangen streift. Sie denkt an diese Bäume, die im Wald umstürzen, still und unbeobachtet, bis eines Tages jemand vorbeikommt und erschrocken feststellt, dass es den Wald nicht mehr gibt, kein einziger Baum mehr steht.
29. Oktober 1999
Vater Rampini kennt viele Ursachen für das Weinen einer Statue, und keine einzige hat auch nur das Geringste mit Jesus zu tun. Man kann das Marmorgesicht mit Kalziumchlorid einreihen, was bewirkt, dass Luftfeuchtigkeit zu falschen Tränen kondensiert. Oder man drückt kleine Speckkü gelchen in die Augenhöhlen, die bei Zimmertemperatur schmelzen. Man kann sogar zu ganz simplen Mitteln greifen und das Gesicht der Statue mit einem Schwamm befeuchten, während die Anwesenden gerade abgelenkt sind. Er hat schon erlebt, dass ein Behälter mit Filmblut im Ärmel versteckt wurde, um gewissermaßen per Knopfdruck das Aufbrechen von Stigmata vorzutäuschen. Er hat gesehen, wie Rosenkränze sich von Silber in Gold verwandelt haben, eine wissenschaftlich erklärbare metallurgische Reaktion.
Sein Gefühl beim vorliegenden Fall? Die kleine Faith White redet wirres Zeug.
Anfangs hat er noch geglaubt, es würde einfach werden, das Kind zu diskreditieren. Ein paar diskrete Erkundigungen, ein tränenreiches Geständnis, und noch vor dem Abendessen würde er wieder im Seminar sein. Aber je mehr er über
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