Die Wahrheit der letzten Stunde
mir spielen.«
MacReady verschränkt die Arme über der Brust. »Ich bleibe hier unten und trinke mit deiner Mami einen Kaffee.«
Rampini sieht der Frau an, dass sie eigentlich davon ausgegangen war, bei dem Gespräch anwesend zu sein. Gut. Ohne sie würde es leichter werden, die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Faith führt ihn in ihr Zimmer und setzt sich mitten im Raum auf den Fußboden, zu einer Madeline-Puppe und einer Sammlung von Puppenkleidern. Rampini zückt sein Notizbuch und macht erste Einträge. Wenn er sich recht erinnert, lebte Madeline in einem kirchlich geführten Internat. Möglicherweise weiß dieses angeblich in religiösen Dingen so unbedarfte Kind mehr, als alle glauben.
»Soll ich ihr das Schlittschuhkleidchen anziehen oder ihr Abendkleid?«
Es ist so lange her, dass er mit einem Kind gespielt hat - seit er überhaupt etwas anderes getan hat, als Betrüger und Ketzer unter die Lupe zu nehmen und umfangreiche Dissertationen über seine Untersuchungsergebnisse zu verfassen -, dass er im ersten Moment sprachlos ist. Früher wäre ihm der Umgang mit dem Mädchen leicht gefallen, aber inzwischen ist er längst ein anderer Mensch geworden. »Eigentlich würde ich lieber mit deiner anderen Freundin spielen.«
Faith presst die Lippen zusammen. »Ich möchte nicht über sie reden.«
»Warum nicht?«
»Darum«, sagt sie und stopft Madelines Beine unsanft in eine Strumpfhose. Interessant, denkt Rampini überrascht. Visionäre, die wie ein Wasserfall von ihren Visionen erzählen, lügen für gewöhnlich. Wahre Seher müssen hingegen oft erst dazu überredet werden, von ihren Erscheinungen zu erzählen. »Ich wette, sie ist sehr schön«, versucht er, Faith aus der Reserve zu locken.
Faith blickt unter langen Wimpern hervor zu ihm auf. »Kennen Sie sie?«
»Ich arbeite an einem Ort, wo viele Leute studieren und alles über Gott lernen. Darum wollte ich ja auch so gerne mit dir sprechen, damit wir unser Wissen vergleichen können. Hat deine Freundin einen Namen?«
Faith schnaubt verächtlich. »Klar. Gott.«
»Hat deine Freundin dir das gesagt? Hat sie gesagt: >Ich bin Gott«
»Nein.« Faith zieht der Puppe einen Schuh über. »Sie sagte: >Ich bin dein Gott.<«
Auch das notiert er sich. »Erscheint sie dir immer dann, wenn du sie brauchst?«
»Ich glaube schon.«
»Könnte sie auch jetzt erscheinen?«
Faith blickt über die Schulter. »Sie will nicht.«
Wider besseren Wissens folgt Rampini ihrem Blick. Nichts. »Trägt sie ein blaues Kleid?« Er überlegt, sucht nach einer Bezeichnung für Marias Umhang, der auch für ein siebenjähriges Kind verständlich ist. »Eins mit einer Kapuze?«
»Wie ein Regenmantel?«
»Genau!«
»Nein. Erst hatte sie ein weißes Nachthemd an, und jetzt trägt sie immer einen braunen Rock mit einem Oberteil von derselben Farbe, aber es ist alles ein Teil und sieht aus wie das, was die Leute von früher im Fernsehen tragen. Sie hat braunes Haar, das ihr bis hierhin reicht.«
Faith fasst sich an die Schultern. »Und sie trägt solche Schuhe, die man am Strand tragen und mit denen man sogar ins Wasser gehen kann und alles, ohne dass man ausgeschimpft wird. Solche mit Klettverschluss.«
Vater Rampini runzelt die Stirn. »Sie trägt Gesundheitssandalen?«
»Ja, nur dass ihre keinen Klettverschluss und die Farbe von Erbrochenem haben.«
»Ich wette, du hast dir eine ganze Weile gewünscht, eine solche Freundin zu haben, bevor sie dir dann tatsächlich erschienen ist.«
Aber Faith antwortet nicht. Sie kramt im Schrank und kommt mit einer Kiste Lego zurück. Vater Rampini verspürt einen schmerzhaften Stich - er erinnert sich, das gleiche Spielzeug seinem eigenen Sohn geschenkt zu haben, lange bevor er zum Priester geweiht wurde. Ob der es noch hatte?
Faith mustert ihn auf eigentümliche Weise. »Sie dürfen die Gelben haben.«
Rampini konzentriert sich wieder auf die Gegenwart. »Und … hast du dir gewünscht, sie zu sehen?«
»Jeden Abend.«
Vater Rampini hat schon genug angebliche Visionäre gesehen, um Vergleiche ziehen zu können. Die religiösen Frömmler, die Jahre beten, dass Jesus ihnen einmal erscheinen möge und ihn dann tatsächlich sehen, sind in aller Regel Hysteriker, die sich in etwas hineingesteigert haben. Das war sogar traurigerweise bei der liebenswerten älteren Nonne aus Medford der Fall gewesen, die er im vergangenen Winter zu begutachten beauftragt worden war. Etwas völlig anderes als bei den Kindern von Fatima, die einfach Schafe
Weitere Kostenlose Bücher