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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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gehütet hatten, als ihnen ganz unerwartet Maria erschien. Oder die heilige Bernadette, die gerade in der Nähe einer Müllkippe Holz sammelte, als die Heilige Jungfrau sich ihr zeigte.
    Göttliche Visionen sind von Gott gesandt, aber sie kommen aus dem Nichts. Und doch hatte Faith nach eigener Aussage um eine solche Erscheinung gebeten - oder gebetet?
    »Ich habe mir ganz fest eine Freundin gewünscht«, fährt Faith fort. »Also habe ich mir jeden Abend bei einem Stern eine gewünscht. Und dann ist sie gekommen.«
    Er zögert, bevor er sich eine weitere Notiz macht. Sich nach einer Freundin zu sehnen ist nicht dasselbe wie für eine göttliche Erscheinung zu beten, aber es gibt Fälle von kindlichen Visionären, die gewissermaßen auf der Wiese Gottes gespielt haben. Der heilige Hermann-Joseph hat mit Maria und dem jungen Jesus gespielt, und die heilige Juliana Falconieri hatte Visionen, in denen das Jesuskind Blumengirlanden flocht.
    Sein Blick fällt auf Faith’ Hände, die die kleinen Steine greifen und auf die genoppten Lego-Platten drücken. »Ich habe gehört, du hättest dir wehgetan.«
    Hastig versteckt sie die Fäuste hinter dem Rücken. »Ich will nicht mehr reden.«
    »Warum denn nicht? Weil ich mich nach deinen Händen erkundigt habe?«
    »Sie werden mich auslachen«, sagt sie leise.
    »Ich habe schon andere Leute mit Wunden gesehen wie deine«, entgegnet Vater Rampini sanft.
    Das lässt Faith aufhorchen. »Wirklich?«
    »Wenn du mich einen Blick auf sie werfen lässt, kann ich dir sagen, ob deine gleich sind oder anders.«
    Sie legt eine Hand mit dem Handrücken nach unten zwischen ihnen auf den Boden und öffnet die Finger wie Blütenblätter. Dann zieht sie mit der anderen Hand das Pflaster ab. In der Mitte der Handfläche ist ein kleines Loch. Das Gewebe um die Wunde herum ist unversehrt, und es sind auch keine Erhebungen zu sehen wie beim heiligen Franziskus von Assisi, so als drückten Nägel von unten gegen die Haut. »Tut es weh?«, fragt Rampini. »Im Moment nicht.«
    »Wenn deine Hände bluten«, fragt er vorsichtig, »denkst du dann manchmal an Jesus?«
    Faith runzelt die Stirn. »Ich kenne niemanden, der Jesus heißt.«
    »Das ist der Name Gottes«, erklärt der Priester. »Nein, das stimmt nicht.«
    Ein siebenjähriges Kind kann sehr direkt sein. Sagt Faith das, weil Gott ihr ausdrücklich gesagt hat, Er wäre nicht Jesus? Oder weil Er ihr bisher Seinen Namen nicht gesagt hat? Oder bedeutet das vielleicht, dass diese Visionen keineswegs göttlicher Natur sind, sondern vielmehr satanischer?
    Rampini möchte sie noch mehr zu Gottes Namen fragen - er will nach Rumpelstilzchen-Manier fragen, bis er die richtige Antwort herausbekommen hat. Es ist nicht Maria und auch nicht Jesus. Aber ist es Beizebub? Jahwe? Allah? Stattdessen hört er sich sagen: »Kannst du mir sagen, was es für ein Gefühl ist, wenn Gott mit dir spricht?«
    Faith blickt wortlos auf ihren Schoß. Vater Rampini sieht sie an und denkt an das erste Mal, als er seinen Sohn gesehen hat. Er erinnert sich, wie die winzigen Finger wie Spinnenbeine über Annas Brust gekrochen sind, als sie ihn wiegte. Obgleich er beim theologischen Askesetraining gelernt hat, dass Gefühle unwichtig sind und man beim Zelebrieren der Messe und der Verabreichung der Sakramente Gott am nächsten ist, denkt er jetzt nicht mehr daran. Dieses Gefühl eines überquellenden Herzens, überquellender Göttlichkeit, hat er nur zweimal in seinen dreiundfünfzig Lebensjahren verspürt. Das eine Mal, als er seine Frau nach der Geburt ansah, und dann sechs Jahre später, als der Heilige Geist sich auf ihn herabsenkte wie einer jener frühen Schneestürme im Mittleren Westen, den Schmerz betäubte, der ihn nicht mehr losgelassen hatte seit dem Unfall, der ihm seine Familie geraubt hatte. Der Heilige Geist hatte es ihm ermöglicht, zu vergeben, und ihm damit eine erdrückende Last von den Schultern genommen.
    Es dauert eine Weile, bis Vater Rampini registriert, dass Faith einen kleinen Legostein genommen hat, einen roten, und diesen in das Loch in ihrer rechten Hand gesteckt hat. Der Stein steckt bis zur Hälfte in der Wunde, die jedoch nicht wieder aufbricht, und als Faith die Handmuskeln anspannt, fällt er heraus. »Wenn sie spricht, spüre ich es hier«, sagt Faith, ballt die Hand zur Faust und führt diese an sein Herz.
     
    Vater Rampini weiß seit langem, dass er in einer Welt lebt, die Skeptiker als unmöglich betrachten, aber für ihn ist der Katholizismus -

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